«In jungen Jahren erscheint die Zeit grenzenlos, man hält sich für unsterblich»
Natascha Wodin über «Die späten Tage»
Liebe Natascha Wodin, Sie haben vor 11 Jahren schon einmal über das Altwerden geschrieben, einen Roman mit dem Titel Alter, fremdes Land. Würden Sie jetzt, mit 80, das Alter noch immer als „fremdes Land“ bezeichnen, dem Sie sich nicht zugehörig fühlen?
Je älter ich werde, desto fremder kommt mir dieses Land vor. Dieser immer gebrechlicher und maroder werdende Körper – das bin nicht ich, in so einem Körper kann man sich nicht zu Hause fühlen. Ich glaube, dass Körper und Seele sich schon vor dem Tod zu trennen beginnen und eigene Wege gehen. Das Alter besteht in dem langsamen Prozess dieser Trennung. Der Körper wird immer mehr zu einem Hindernis, zu einer Last, die man dann eines Tages vielleicht gern abwirft. Friedrich sagt in meinem Buch, dass er sich in einem Prozess der Entkörperlichung befindet. Das empfinde ich nicht so, der Körper wird immer spürbarer, immer präsenter, aber eben als Hindernis, als Schmerz, als Grenze.
Sie verknüpfen das Altsein mit dem Erleben einer späten großen Liebe. Wie unterscheidet sich eine solche Liebe von einer in jüngeren Jahren?
Vor allem dadurch, dass man nicht mehr viel Zeit miteinander hat. In jungen Jahren erscheint die Zeit grenzenlos, man hält sich für unsterblich. Wenn man sich so spät begegnet wie Friedrich und ich, ist man von Anfang an zu dritt, der Tod spielt immer mit. Das Vergängliche ist in jedem Moment präsent, das verleiht der Beziehung eine schmerzliche Kostbarkeit, eine ganz eigene Schönheit. Und einen ganz eigenen Schrecken. Manchmal schleiche ich mich nachts in Friedrichs Zimmer und lausche in der Dunkelheit, ob er noch atmet. Außerdem verändert das Alter die Prioritäten. Ich konnte mich mein Leben lang nicht zwischen Feuer und Wärme, Nest und freier Wildbahn entscheiden, jetzt brauchen wir beide vor allem Schutz und Beständigkeit, wir sind füreinander da und wissen, dass wir Verantwortung für den andern tragen. Das Ego steht nicht mehr im Mittelpunkt, die Liebe wird selbstloser, und das ist nicht etwa ein Verlust, sondern ein großer Gewinn. Die Liebe, die haben will, bleibt immer unerfüllt, das Glück liegt im Geben. Das habe ich in jungen Jahren nicht gewusst.
Sie haben immer nah an Ihrem Leben entlang geschrieben. Für Die späten Tage haben Sie nun noch einmal eine neue Form des Erzählens gefunden: eine Art Mosaik aus Erinnerungen, Reflexionen und Beobachtungen. Was hat Sie dazu gebracht?
Ich hatte diesmal keinen Plan, ich wusste nur, dass ich über das Alter schreiben will. Die Struktur des Buchs ist von selbst entstanden. Ich dachte, ich schreibe einfach mal nacheinander auf, was mir in den Sinn kommt und mache später eine Geschichte daraus. Aber das war schließlich gar nicht mehr nötig, im Schreibprozess war ohne mein Zutun ein Leim entstanden, der die einzelnen Textpassagen zusammenhielt, von selbst zu einer Art Geschichte verband. Ich habe dann nur noch an der Sprache gearbeitet, an den vielen Schleifvorgängen, die für mich notwendig sind, um zum Eigentlichen, zum Einfachsten vorzustoßen. Die zufällig gefundene Form, die ja gar nichts Neues ist, hat mir beim Schreiben eine Freiheit verliehen, wie ich sie nie zuvor hatte.
Die späten Tage
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Die amerikanische Autorin Lucia Berlin sagte einmal, Schreiben sei für sie ein Ankerpunkt, eine Möglichkeit, sich aus dem Gefühl der Heimatlosigkeit heraus eine eigene Heimat zu schaffen. Spielt das Schreiben für Sie eine ähnliche Rolle?
Ich habe meinen Schreibzwang oft verflucht. Heute weiß ich, dass ich ihn zum Überleben gebraucht habe, dass die Sprache meine Zuflucht war, mein einziges Zuhause. Eigentlich ist das ein Gemeinplatz, das sagen ja fast alle Schriftsteller von sich, aber wahrscheinlich ist es so, dass nur Heimatlose zu Schriftstellern werden. Wer sich in der real existierenden Welt zu Hause fühlt, der braucht das Schreiben nicht, der muss sich diese Tortur nicht antun. Man muss sich ja selbst finden, wenn man seine Sprache finden will, und das gilt bei jedem Satz neu. Ein falscher Satz kann ein ganzes Buch zerstören.
Was wäre für Sie das schönste Kompliment von Leserinnen und Lesern?
Ein Freund, ein ebenfalls schon in die Jahre gekommener Schriftsteller, hat mir gesagt, er hätte sich nach der Lektüre meines Buchs so jung und gesund gefühlt wie schon lange nicht mehr. Eine Rezensentin schrieb, der Zauber des Buchs bestünde darin, dass es nichts beschönigt und trotzdem schön ist. Mehr kann ich mir nicht wünschen.