ADHS und Lesen: Warum es schwerfällt & wie es klappt
Warum ist Lesen mit ADHS oft so ein Kampf, obwohl die Leidenschaft für Bücher da ist? Unsere Social Media Redakteurin Lisa hat selbst ADHS und teilt hier ihre persönlichen Erfahrungen. Lisa berichtet, was im Gehirn passiert, und bringt ihre Buchtipps mit.
Lesen kann für Personen mit ADHS die größte Leidenschaft sein (oder eine von vielen). Für viele ADHSler:innen ist das Lesen von Büchern aber auch eine größere Herausforderung als für Menschen ohne ADHS. Warum ist das so?
Lesen erfordert anhaltende Aufmerksamkeit
Das ADHS-Gehirn ist ständig auf der Suche nach neuen Reizen (Dopamin!). Ein Buch mit beispielsweise langsamem Einstieg kann oft nicht gegen die lauten, eigenen Gedanken oder Geräusche von außen ankommen. Die Konzentration geht ins Außen, die Gedanken schweifen ab und nach dem vierten Mal Umblättern stellt man fest, dass man gar nicht mehr weiß, was man gelesen hat.
Das Arbeitsgedächtnis
Dies ist ein aktiver Teil des Gedächtnisses, der sowohl neue Informationen aufnimmt als auch auf Inhalte aus dem Langzeitgedächtnis zugreift. Man kann sich das Arbeitsgedächtnis wie eine Werkbank vorstellen, auf die wir Dinge legen, die wir uns merken wollen. Das Problem bei ADHS: Die Werkbank ist schnell voll (z. B. wegen großer Ablenkungen) und Sachen fallen herunter. Um einer Handlung zu folgen, müssen wir uns an Charaktere, Orte und Ereignisse erinnern. Dem Arbeitsgedächtnis von ADHSler:innen fällt es schwer, diese Fäden zusammenzuhalten.
Die Unruhe
Lesen ist ein ruhiges Hobby. Bei Personen mit ADHS ist neben der inneren Unruhe (rasende Gedanken) auch die körperliche Unruhe ein großes Thema. Die Hyperaktivität ist nicht bei allen Personen mit ADHS gleich stark ausgeprägt. Manche haben das Gefühl, ständig getrieben zu sein, es fällt ihnen schwer stillzusitzen oder sie brauchen die Bewegung, um sich besser zu konzentrieren oder um sich selbst zu regulieren.
Die Leseerfahrungen
Schlechte Leseerfahrungen in der Schulzeit sind für viele ein prägender Punkt. In der Schule wurde neben dem Lesen auch das Textverständnis bewertet. Viele Personen mit ADHS haben Schwierigkeiten, Details aus dem Gelesenen abzurufen oder Unwichtiges von Wichtigem zu trennen. Dies liegt nicht an fehlendem Intellekt. Es ist ein Problem der Informationsverarbeitung und -filterung. Häufig konnte das Buch auch nicht zu Ende gelesen werden. Darauf folgten negative Rückmeldungen, schlechte Noten.
Scham und falsche Vorwürfe
Wenn das Textverständnis nicht passte oder das Buch nicht beendet wurde, folgten oft negative Rückmeldungen:
«Du bist zu faul.»
«Du strengst dich einfach nicht an.»
«Du bist dumm.»
Diese Sätze brennen sich ein. Lesen wurde emotional mit Versagen, Langeweile, Stress und Scham verknüpft.
Komorbidität
Eine Komorbidität mit Legasthenie ist relativ häufig. 20% - 40% der Personen mit ADHS haben auch Legasthenie. Das macht das Lesen auf vielen anderen Ebene noch herausfordernder.
ABER
Wenn ein Buch eine Person mit ADHS wirklich packt, weil es emotional mitreißt, das Interesse voll trifft oder extrem spannend ist, passiert das Gegenteil: Der Hyperfokus setzt ein. In diesem Zustand blendet das Gehirn alles andere aus. Die Person kann das Buch nicht mehr weglegen und wenn sie es doch tut, dann denkt sie viel an die Geschichte, sie liest die ganze Nacht durch, vergisst zu essen und zu trinken und «lebt» förmlich im Text.
Was macht ein Buch «ADHS-freundlich?»
- Das Interesse muss vorhanden sein, bevor das Buch überhaupt geöffnet wird
- Es sollte sofort fesseln
- Hohes Tempo, keine langatmigen Beschreibungen
- Kurze Kapitel für schnelle Erfolgserlebnisse und natürliche Pausen
- Gute Struktur, klare Absätze, viel Weißraum, lesbare Schrift
- nicht linear: Sachbücher, Kurzgeschichten oder Anthologien eignen sich super
Bücher dürfen abgebrochen, in einer Nacht verschlungen oder über Monate hinweg gelesen werden. Wenn ein Buch fesselt, ist es die perfekte Dopamin-Dusche und das Gehirn optimal ausgelastet. Das führt zu dem Gefühl, dass das sich ständig drehende Gedanken-Karussell stillsteht und dies ist sehr erholsam.
Manche ADHSler:innen haben ein Spezialinteresse und oft eine große kreative Vorstellungskraft. Beim Lesen spielen sich Bilder im Kopf ab, es werden Kulissen gebaut, der Soundtrack komponiert und aufgrund der hohen emotionalen Intensität stark mit den Charakteren mitgefühlt.
Es gibt kein «richtiges» oder «falsches» Lesen
Für ein neurotypisches Gehirn ist Lesen oft eine ruhige Beschäftigung. Für ein ADHS-Gehirn ist es, wenn es funktioniert, eine intensive, laute, alles verzehrende und gleichzeitig erholsame sowie extrem stimulierende Erfahrung.