Im Gespräch

Endlich bewusst essen!

Wie du die Hintergründe deines Essverhaltens verstehst und zu innerer Balance findest

Dr. Kathrin Vergin
© Markus Hertrich

Wir essen aus Stress, aus Kummer, um uns zu beruhigen – oft, ohne wirklich Hunger zu verspüren. Die Folge: Wir nehmen zu, entwickeln im schlimmsten Fall eine Essstörung. Dabei folgen wir häufig den immer gleichen Mustern. Dr. Kathrin Vergin, Ernährungstherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie, hat eine Methode entwickelt, mit deren Hilfe man das eigene Essverhalten, Routinen und Gewohnheiten hinterfragen und nachhaltig verändern kann – ganz ohne Verbote oder gar Diäten. So lernt man, besser mit persönlichen Konflikten umzugehen und sich weiterzuentwickeln.

Das Interview

Vor zwei Jahren haben Sie das Emotional-Eating-Tagebuch veröffentlicht, mit großem Erfolg. Was hat Sie bewogen, jetzt dieses Buch zu schreiben?
Mit meinem Emotional-Eating-Tagebuch wollte ich allen Ratsuchenden ein Hilfsmittel an die Hand geben, mit dem sie das eigene Essverhalten dokumentieren und verbessern können. Ich musste aber erkennen, dass die Inhalte dazu nicht ausreichend waren. Mir wurde klar, dass ein solches Tagebuch nur dann seine volle Wirkung entfalten kann, wenn parallel dazu das nötige Hintergrundwissen vermittelt wird. Das war mit ein Grund, ein Buch mit Praxis- und Anwendungsbezug zu schreiben, in dem gezeigt wird, wie man die eigenen Gewohnheiten beim emotionalen Essen verstehen lernt und mit wirkungsvollen Methoden zum richtigen Essverhalten findet. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass das Zurückfinden zum persönlichen Essverhalten ganz individuell sein und für jeden etwas anderes bedeuten kann. Die Herausforderung war es also, viele praxistaugliche Methoden mit Individualismus zu kombinieren.

Was genau ist eigentlich «emotionales Essen», was unterscheidet es von «normalem» Essen?
Emotionales Essen findet immer dann statt, wenn wir aus Emotionen heraus zu Essen greifen, obwohl wir eigentlich gar keinen Hunger haben. Erziehung, Gewohnheiten und antrainierte Verhaltensweisen, Traditionen und innere Glaubenssätze spielen bei unserem Essverhalten eine wichtige Rolle, aber auch das eigene psychische Befinden. Das Essverhalten ist Teil unseres Sozialverhaltens. Gemeinsam zu essen stellt Nähe her, schafft ein «Wir-Gefühl» und befriedigt unser Bedürfnis nach sozialen Kontakten. Es gibt noch andere Situationen, in denen Essen ein Ersatz für nicht bediente emotionale Bedürfnisse sein kann: Essen aus Frust, Kummer, Langeweile, zur Beruhigung oder Belohnung. Dabei ist der Griff zu einem Lebensmittel, das mit speziellen Gefühlen verbunden ist, wie ein Automatismus: Schokolade, der Burger mit Pommes, das Glas Wein, das Stück Kuchen.

Die Beziehung zwischen Essverhalten und psychischem Befinden ist eng.

Wir essen, um zu feiern, um uns zu belohnen, zu entspannen oder uns zu trösten. Das gehört alles zu einem normalen Essverhalten dazu; problematisch wird es dann, wenn wir über keine Handlungsalternativen zum Essen verfügen. Die Zusammenhänge zwischen Stress und Essverhalten sind komplex. Zu den physiologischen Reaktionen auf Stress gehört eine Drosselung aller mit der Verdauung und der Nahrungsaufnahme in Zusammenhang stehenden Prozesse und damit eine ausgeprägte Minderung des Appetits. Aufgrund der oben beschriebenen Prozesse reagieren nicht wenige Erwachsene in Stresssituationen mit vermehrtem Essen.

Ihre These: Wer keine Klarheit hat über die familiäre Prägung des Essens, eigene Glaubenssätze, Gewohnheiten und Stressoren, die unser Essverhalten bestimmen, dem helfen auf Dauer auch kein obsessives Kalorienzählen, keine Proteinshakes oder fanatischen Sportprogramme. In welchen Schritten kann die Emotional-Eating-Methode für ein neues Essbewusstsein sorgen?
Die Methode enthält viele einzelne Schritte, die man ganz individuell für sich nutzen kann. Ich stelle dort verschiedene Auslöser für emotionales Essen vor; jede*r Leser*in kann entscheiden, wie er oder sie in das Thema einsteigen will. So entsteht ein ganz individueller Ablauf, abgestimmt auf die eigenen Bedürfnisse. Wichtig dabei sind bestimmte Schritte, ohne die die Methode nicht funktioniert. Dazu gehören die Auflösung von Glaubenssätzen, die Identifizierung und der Austausch schlechter Gewohnheiten, der Abbau von Stress, die Decodierung der eigenen Bedürfnisse. On top kommt dann das Umsetzen einer gesunden Ernährung.

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Ihr ernährungswissenschaftlicher Ansatz stellt eine dezidierte Kritik an den Versprechungen und Werbemethoden der Diätindustrie dar, an deren ganzer Geschäftslogik. Was lässt Menschen immer wieder in diesen bunten Diätenreigen einsteigen, obwohl uns insgeheim doch bewusst ist, dass Diäten uns nicht von unserem «Essproblem» befreien?
Diäten sind nicht die Lösung des Problems. Sie sind eher das Problem. Diäten scheitern, weil wir sie nicht dauerhaft durchhalten können. Betrachtet man es aus der Sicht der Lebensmittel- oder Diätindustrie, sollen wir das auch gar nicht – immerhin geht es um immense Profite. Würden all die angepriesenen Diäten funktionieren, ließe sich damit nichts mehr verdienen. Die Diätindustrie suggeriert, wir seien nur dann glücklich, wenn wir auf der körperlichen Ebene Ergebnisse erzielen, indem wir uns an ihre Ideen und Produkte halten. Wenden wir uns aber vom Diätplan ab und folgen unseren Bedürfnissen, ist es oftmals schnell vorbei mit dem Erfolg – wir kehren zurück in den alten Teufelskreis. Diäten sind nichts anderes als ein Ausdruck der inneren Ratlosigkeit. Da wir wissen, dass wir mit Achtsamkeit und intuitivem Essen keine sofortigen Antworten erwarten können und damit auch keine schnellen Ergebnisse erzielen werden, lassen wir uns auf die Versprechen der Diätindustrie ein und erzwingen einen kurzfristigen Effekt, anstatt die eigenen Ernährungsgewohnheiten dauerhaft umzustellen. Mit einer Diät versuchen wir also nur, der Arbeit mit uns selbst aus dem Weg zu gehen und zu vermeiden, uns unseren eigentlichen Problemen und Bedürfnissen zu stellen.

Neben einer Identifizierung der Multiplikatoren des emotionalen Essens (Scham, Perfektionismus, Hochsensibilität, Stress) steht für Sie die Umcodierung negativer durch positive Glaubenssätze rund ums Essen im Fokus. Wie wichtig ist das?
Dinge, auf die wir uns konzentrieren, wachsen unbewusst in uns weiter. Das heißt: Je mehr wir unseren negativen Gefühlen freien Lauf lassen, umso mächtiger werden sie auch. Je stärker wir also an Dinge glauben oder glauben wollen, desto mehr werden sie ein Teil von uns. Wenn man also glaubt, dass man ein*e «Diät-Versager*in» ist, vielleicht auf ewig dazu verdammt ist, dick zu bleiben, dann formt man damit sein eigenes Selbstbild. Glaubenssätze sind – ähnlich wie Gewohnheiten – mächtige Mitspieler im emotionalen Essen. Wer in negativen Glaubenssätzen denkt und spricht, fällt negative Urteile über sich. Wir beleidigen und degradieren uns so unbewusst selbst. Während uns negative Glaubenssätze also limitieren und dafür sorgen, dass wir unsere Ziele nicht erreichen, können positive Glaubenssätze uns beflügeln, motivieren und helfen, das zu erreichen, was wir uns vorgenommen haben.

Dr. Kathrin Vergin

Dr. Kathrin Vergin

Dr. Kathrin Vergin ist Geschäftsführerin des Emotional Eating Instituts in Hamburg. Sie arbeitet als Ernährungstherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Als ehemals Betroffene kann sie bei der Betreuung ihrer Patienten – meist Menschen mit starkem Über- oder Untergewicht bzw. mit Essstörungen – nicht nur auf ihre fachliche Kompetenz, sondern auch auf ihre eigene Erfahrung zurückgreifen. Neben ihrer Tätigkeit als Ernährungscoach hält Dr. Kathrin Vergin Vorträge und Seminare in Firmen und engagiert sich in der Ernährungsberatung von Krebspatienten.

Sie stufen «emotionales Essen» als eine Essstörung ein, wie Anorexie, Bulimie oder das Binge-Eating. Weshalb?
Emotionales Essen kann zu einer Binge-Eating-Störung werden oder in einer Esssucht enden. Damit stellt es aus meiner Sicht eine Form der Essstörung dar, auch wenn emotionales Essen nicht als solche anerkannt ist. Emotionales Essen umfasst dabei mehr als die bekannten Essstörungen Magersucht, Binge-Eating und Bulimie – ihm liegt definitiv eine Suchtstruktur zugrunde. Und was ist Esssucht dann, wenn es keine Essstörung ist?

Wie realistisch ist es, mit der Emotional-Eating-Methode im Kopf und dem Emotional-Eating-Tagebuch als erprobtem Alltagstool im Gepäck sein Essverhalten in Eigenregie neu zu organisieren, also ohne ärztliche/therapeutische Begleitung?
Mehr als realistisch. Mit dieser Methode konnte ich schon viele Frauen auf dem Weg raus aus den Zwangsstrukturen des emotionalen Essens begleiten. Das Buch ist extra so konzipiert, dass ich alle Methoden auch ohne Hilfe durchlaufen kann. Sollte man aber trotzdem Hilfe brauchen, biete ich zu dieser Methode in meinem Emotional Eating Institut eine passende Masterclass mit Live-Sprechstunden an.

Weihnachten und Silvester stehen vor der Tür, erfahrungsgemäß heikle Tage, was unser Essen und Trinken angeht. Hätten Sie zum Abschluss ein paar schnelle Tipps auf Lager?
Der Schlüssel liegt darin, sich grundlegend nichts zu verbieten. Denn das fördert die Lust, genau die Dinge zu essen, die wir aktuell nicht essen sollten. Ich bin immer ein Freund der «richtigen» Menge.

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