Im Gespräch

«Wir müssen wohl lernen, Wohlstand neu zu definieren.»

Harald Jähner im Gespräch über sein neues Buch «Wunderland. Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955 – 1967»

Harald Jähner im Gespräch
© Barbara Dietl

Lieber Harald Jähner, in Ihren Büchern «Höhenrausch» und «Wolfszeit» haben Sie sich mit dem Deutschland der Zwischenkriegszeit und der unmittelbaren Nachkriegsjahre beschäftigt. In «Wunderland» schreiben Sie erstmals über eine Zeit, die Sie selbst miterlebt haben. Hat sich das auf Ihr Schreiben ausgewirkt?

Zum Glück nur wenig. In diesem Buch wird das Panorama der fünfziger und sechziger Jahre aus vielen verschiedenen Blickwinkeln entwickelt. Einer dieser Blickwinkel – und nur ganz am Rand – ist die Perspektive des staunend heranwachsenden Kindes, das ich damals war.

Sage und schreibe 10,5 Prozent betrug das Wachstum 1955. Was hat das anbrechende Jahrzehnt des Wirtschaftswunders mit den Deutschen gemacht, denen die Entbehrungen der direkten Nachkriegszeit ja noch in den Knochen steckten?

Es hat sie verblüfft, wie man das von einem ordentlichen Wunder erwarten kann. Natürlich ahnten sie, dass es in Wirklichkeit kein Wunder war, der rasche Wohlstand wurde ja sehr hart erarbeitet. Aber er erschien vielen Deutschen so kurz nach dem Grauen, das sie im Nationalsozialismus über die Welt gebracht hatten, doch reichlich unverdient. Auch deshalb klang der Ausdruck «Wirtschaftswunder» so überzeugend.

Die Zeit bis Mitte der sechziger Jahre wird oft als eine der eher biederen Mittelmäßigkeit gesehen. Zu Recht?

Das ist ganz falsch. Sicher gab es eine starke Sehnsucht nach Behaglichkeit, aber das ist nach den vorausgegangenen Jahrzehnten des Außerordentlichen nur allzu verständlich. Man hatte sich eines unvorstellbaren Menschheitsverbrechens schuldig gemacht und rang nun äußerlich ziemlich hilflos um Läuterung und darum, Konventionen einzuhalten. Zugleich wurde ein wunderbar skurriles Buch wie Günter Grass «Blechtrommel» ein Aufreger mit enormer Breitenwirkung. Und musikalisch kamen die Alliierten als Befreier ins Land. Als Jugendlicher hörte ich im Radio die Popmusik, die die DJs des Soldatensenders BFBS auflegten. Das klingt bis heute nach. «These Boots Are Made for Walking». Unter den Filmern ist Will Tremper eine verkannte Größe. Und Herbert Vesely. Seine Böll-Verfilmung »Das Brot der frühen Jahre» von 1962 ist ein Meisterwerk.

Gibt es eine Werbekampagne, die diesen neuen Geist – weg vom Mief, hin zu Neuem – für Sie besonders gut einfängt?

Die berühmte Afri-Cola-Werbung von Charles Wilp ist sicher der Poprevolution am nächsten, in die diese rasante Boomzeit mündet: «Sexy-mini-super-flower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola» lasziv gehaucht, während verführerische Models unter weißen Nonnenhauben hinter beschlagenem Glas tanzen.

Der Wandel im Lebensstil kam nicht von ungefähr. Die Jahre des Aufschwungs lassen die sogenannte «Mittelstandsgesellschaft» entstehen, es herrscht Vollbeschäftigung, Bildungsreform und Sozialstaat nehmen mehr und mehr Gestalt an. Was bedeutete das für die Menschen damals?

In diesen zwölf Jahren von 1955 bis 1967 entwickelt sich die Bundesrepublik von einem – was soziale Schichten, Milieus und Moden anlangt – sehr übersichtlichen Gefüge, geprägt durch Arbeit und Beruf, zu einer hedonistischen Gesellschaft verschiedenster Lebensstile und Identitäten, die um Genuss und Selbstbestimmung kreisen. In rasanter Geschwindigkeit ändern sich die Lebenseinstellungen und Gefühlslagen. Eine ganz wichtige Rolle für diesen Individualisierungsschub spielte der Konsum. Der Weg vom Tante-Emma-Laden zum Supermarkt war, so sehr wir den kleinen Kaufmann auch heute nostalgisch verklären, ein Weg zu mehr Wahlfreiheit und Souveränität – auf ganz elementarer Ebene. Der Wirtschaftsaufschwung sorgte dafür, dass nun auch für die Menschen der sogenannten breiten Masse das soziale Spiel von Abgrenzung und Angleichung begann, das die Angehörigen der Eliten schon lange betrieben – mit der Wahl ihrer Autos, ihrer Kleidung, ihres Einrichtungsstils und ihrer Musikvorlieben.

Sie sind im Ruhrgebiet aufgewachsen. Was überwiegt in Ihrer Erinnerung: Konsumrausch oder Kohlenstaub?

Das hält sich die Waage. Als Schüler wurden wir mal auf dem Heimweg von einer giftigen Emissionswolke erfasst. Alle mussten sich übergeben. Sonderlich besorgt hat das niemand, auch die Eltern nicht. Zur gleichen Zeit, etwa mit vierzehn Jahren, wurde ich zum Käsekenner. Die Auswahl im Supermarkt faszinierte mich. Ich riss mich ums Einkaufen und schleppte immer neue Käsesorten nach Hause. Das war mein ganz privater Konsumrausch.

Die Zeit des hartnäckigen Beschweigens in den Fünfzigern fand viel früher ein Ende – nicht überall, aber doch deutlich und folgenreich.

Sie schreiben auch über die großen Prozesse der Sechziger, den Eichmann- und den Auschwitzprozess. Prägten diese das deutsche Selbstverständnis neu?

Über den acht Monate dauernden Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem wurde in Deutschland ausgiebig berichtet. Zum Beispiel widmeten sich dem sechsunddreißig Sondersendungen im Fernsehen jeweils zwanzig Minuten nach den Hauptnachrichten. Überraschend war für mich, wie intensiv der Massencharakter des Nationalsozialismus in der Presse interpretiert und verdeutlicht wurde. Anders als beim Nürnberger Prozess wurde nun erkannt, dass nicht eine kleine Clique, sondern Hunderttausende sich schwerster Verbrechen, Millionen durch Schweigen und Wegsehen schuldig gemacht hatten. Es stimmt einfach nicht, dass sich erst die 68er-Generation in großer Breite mit dem Holocaust auseinandergesetzt hätte, wie immer wieder behauptet wird. Die Zeit des hartnäckigen Beschweigens in den Fünfzigern fand viel früher ein Ende – nicht überall, aber doch deutlich und folgenreich.

Sie erzählen Geschichte gern anhand von einzelnen Lebensläufen, vom «Volkskonfektionär» Josef Neckermann über den Bergmann Josef Stefaniak bis zu Oskar Tischer, der als Homosexueller von 1943 bis 1966 wegen «Unzucht» eingesperrt war. Was kann uns diese Perspektive über die großen Linien der Geschichte verraten?

Es sind lauter Einzelne, die die Richtung eines Schwarms bestimmen. Was ein einzelner Mensch denkt und fühlt, scheint angesichts des Gewichts der Masse irrelevant, das Gegenteil ist aber richtig. Er trägt, vor allem in der Demokratie, eine Verantwortung, die den wenigsten bewusst ist. Ein einzelnes Leben ist meist reicher, widersprüchlicher, unentschiedener und eigensinniger als der Weg des Ganzen. In fast jedem von uns steckt, wenn auch oft tief verborgen, ein Außenseiter.

Dieses lange Jahrzehnt illustriert wie kaum ein zweites die Einsicht: Es kommt immer anders, als man denkt.

Ein besonders schönes Kapitel widmen Sie der jungen Künstlerszene um Gerhard Richter und Joseph Beuys. Zeigte sich hier das neue, selbstbewusste Gesicht der Bundesrepublik?

Nicht unbedingt ein selbstbewusstes, aber doch ein aufbegehrendes, suchendes, experimentierendes Tasten nach Wahrhaftigkeit, Krawall und Krach inbegriffen. Legendär bis heute ist das Düsseldorfer «Creamcheese», eine Musikkneipe als Gesamtkunstwerk, zu der Künstler wie Gerhard Richter, Heinz Mack, Günther Uecker und Ferdinand Kriwet beitrugen. Joseph Beuys war dort Stammgast, viele seiner Schüler arbeiteten hinter der Theke. Die Musiker von Kraftwerk traten in ihren Anfangstagen dort auf. «Machen Sie sich frei!», lautete das «Creamcheese»-Credo: «Seien Sie selbst.» Viele überforderte das auch.

„Wunderland“ beginnt mit der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion und endet mit der Mondlandung 1968. Gewissermaßen vom bangen Blick nach Osten zum hoffnungsvollen nach Westen und in den Weltraum. Eine vielgesichtige, teils in sich widersprüchliche Zeit – wie spricht sie zu uns Heutigen?

Dieses lange Jahrzehnt illustriert wie kaum ein zweites die Einsicht: Es kommt immer anders, als man denkt. Wer hätte im vielerorts noch sehr armseligen Jahr 1955 gedacht, dass nach zehn Jahren unglaublichen Aufschwungs einmal ein Schlagwort wie «Überflussgesellschaft» plausibel klingen würde? Dass die Jugend die Pausetaste drücken und ein soziales Phänomen namens Gammler etwas einfordern würde, das wir heute Work-Life-Balance nennen? Wohlstand kostet eine Menge. Man bezahlte mit harter Arbeit und langen Schichten, mit Gesundheit, Naturzerstörung und für immer verbrauchten Ressourcen. Das Wirtschaftswunder gewöhnte uns Ansprüche an, die heute unbezahlbar erscheinen. Ein unaufhörlicher Boom kann kein Vorbild gesunden Wirtschaftens sein. Und doch bleibt er als solcher unvergesslich. Wir müssen wohl lernen, Wohlstand neu zu definieren.

Barbara Dietl
© Barbara Dietl
Harald Jähner

Harald Jähner, geboren 1953 in Duisburg, war bis 2015 Feuilletonchef der «Berliner Zeitung», zugleich Honorarprofessor für Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin. 2019 erschien das Buch «Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955», das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde; es wurde in zahlreichen Ländern veröffentlicht, darunter USA und England, wo es für den renommierten Baillie-Gifford-Preis nominiert war. 2022 erschien «Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen», ebenfalls ein «Spiegel»-Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Die «Neue Zürcher Zeitung» schrieb: «Ein grandioser Erzähler. Das Buch liest sich spannend wie ein guter Roman.»

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