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Nicht vergessen: Katastrophen und Krisen bringen das Beste in den Menschen zum Vorschein

Rutger Bregmann
© The Correspondent

Von Rutger Bregmann

Katastrophen und Krisen bringen das Beste in uns zum Vorschein. Es gibt nur wenige wissenschaftliche Erkenntnisse, für die es so viele stichhaltige Beweise gibt, aber das vergessen wir häufig. Gerade jetzt, inmitten einer Pandemie, ist es entscheidend, dass wir uns daran erinnern.


Natürlich werden unsere Newsfeeds überschwemmt von zynischen Geschichten und Kommentaren: Man liest über bewaffnete Männer in Hongkong, die Klopapierrollen stehlen, oder einen beiläufigen Kommentar über die australischen Frauen, die in einem Supermarkt in Sydney mit Fäusten gegeneinander kämpften. Momente wie diese verführen zu der Schlussfolgerung, dass die meisten Menschen eigennützig und egoistisch sind.


Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Jedem unsozialen Blödmann da draußen stehen Tausende Ärzte und Ärztinnen, Reinigungskräfte und Pfleger und Pflegerinnen gegenüber, die sich rund um die Uhr um unser Wohl bemühen. Jedem Hamsterkäufer, der panisch ganze Supermarktregale in seinen Einkaufswagen leert, stehen 10 000 Menschen gegenüber, die ihr Bestes geben, um die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Tatsächlich erreichen uns derzeit Berichte aus China und Italien darüber, wie die Krise die Menschen einander näherbringt.


«Wir haben gelernt, Hilfe von anderen anzunehmen», schreibt eine in Wuhan lebende Frau. «Durch diese Quarantäne haben wir auf eine Weise Beziehungen zueinander aufgebaut und einander unterstützt, die ich in meinen neun Jahren hier noch nie erlebt habe.» Mit dem kantonesischen Ausdruck «Jiayou» («Gib nicht auf») ermutigen Millionen Chinesen einander, stark zu bleiben. YouTube-Videos zeigen Menschen in Wuhan, die aus den Fenstern ihrer Häuser singen, worauf zahlreiche Nachbarn einstimmen und der anschwellende Chor dieser Stimmen zwischen den Hochhäusern der chinesischen Städte widerhallt. In Siena und Neapel, wo umfassende Ausgangssperren angeordnet wurden, singen Menschen gemeinsam von den Balkonen ihrer Häuser.


Italienische Kinder schreiben «Andrà tutto bene» («Alles wird gut») auf Straßen und Mauern, während unzählige Nachbarn einander Hilfe leisten. Am Donnerstag berichtete ein italienischer Journalist der britischen Zeitung The Guardian über etwas, das er mit eigenen Augen gesehen hatte: «Nach einem Augenblick der Panik gibt es in der Bevölkerung nun eine neue Solidarität. In meiner Gemeinde liefern die Supermärkte den Menschen Lebensmittel nach Hause, und eine Gruppe Freiwilliger besucht Menschen über 65 Jahren zu Hause.» Ein Fremdenführer aus Venedig stellt fest: «Es ist menschlich, Angst zu haben, aber ich sehe weder Panik noch selbstsüchtige Handlungen.»


Die Worte «Andrà tutto bene» wurden zuerst von einigen Müttern aus der Region Apulien verwendet, die diese Parole auf Facebook posteten. Von da verbreiteten sie sich als viraler Hit über das ganze Land, und zwar fast so schnell wie die Pandemie. Nicht nur das Coronavirus ist ansteckend – auch Freundlichkeit, Hoffnung und Nächstenliebe sind es.

 

Katastrophen führen zu einer Welle der Solidarität

Die erkennbare Welle der Solidarität wird die meisten Soziologen nicht überraschen. Die gegenwärtige Situation weist in der Tat Parallelen auf zur menschlichen Reaktion auf Naturkatastrophen, die seit Jahrzehnten Gegenstand umfassender Forschung ist.


Die Nachrichten nach einer Naturkatastrophe sind fast ausnahmslos beherrscht von Berichten über Plünderungen und Gewalt, aber in vielen Fällen stellen sich diese Geschichten als haltlose und auf Gerüchten beruhende Spekulationen heraus. Seit 1963 hat das Katastrophenforschungszentrum der Universität von Delaware fast 700 Feldstudien zu Überflutungen und Erdbeben durchgeführt, und die Erkundungen vor Ort führen jedes Mal zum gleichen Ergebnis: Die große Mehrheit der Menschen bleibt gelassen und hilft sich gegenseitig. «Wie groß das Ausmaß der Plünderungen auch ist», stellt ein Soziologe fest, «es verblasst gegenüber dem weitverbreiteten Altruismus, der zum freien und massenhaften Geben und Teilen von Gütern und Dienstleistungen¹  führt.»


Ja, Panik kommt vor und Hamsterkäufe auch. Ein britischer Sozialpsychologe stellt jedoch fest, dass «wir bei verschiedenen Arten von Katastrophen und Extremereignissen viel häufiger prosoziales Verhalten beobachten». Das ist eine alte Wahrheit. Einem Augenzeugenbericht zufolge gab es beim Untergang der Titanic «keine Anzeichen von Panik oder Hysterie, keine angstvollen Schreie und kein kopfloses Hin-und-her-Laufen»² . Als am 11. September 2001 die Zwillingstürme brannten, stapften Tausende geduldig die vielen Treppenabsätze hinunter.


«Und die Menschen [sagten] tatsächlich: ‹Nein, nein, Sie zuerst›», erinnerte sich ein Überlebender später. «Ich konnte nicht glauben, dass die Menschen gerade in diesem Moment tatsächlich sagten: ‹Nein, nein, bitte gehen Sie vor.› Es war unwirklich.»

 

Zynismus weicht der Hoffnung

Auf solche Augenzeugenberichte zu vertrauen kann schwerfallen, aber das liegt nicht zuletzt an dem in den vergangenen Jahrzehnten propagierten zynischen Menschenbild. Viele Jahre wurde der Diskurs beherrscht von einem Fokus auf das Schlechte im Menschen. «Der entscheidende Punkt ist doch», so Gordon Gekko, die Hauptfigur im Film «Wall Street» von 1987, «dass die Gier – leider gibt es dafür kein besseres Wort – gut ist. […] Die Gier klärt die Dinge, durchdringt sie und ist der Kern jedes fortschrittlichen Geistes.»


Jahr für Jahr erarbeiten Politiker stapelweise Gesetzesentwürfe in der Annahme, dass die meisten Menschen nicht gut sind. Und wir kennen die Folgen dieser Politik: Ungleichheit, Einsamkeit und Misstrauen.


Trotz alledem ist in den letzten 20 Jahren etwas Außergewöhnliches passiert. Wissenschaftler aus der ganzen Welt und aus vielen unterschiedlichen Disziplinen haben ein hoffnungsvolleres Bild der Menschheit entworfen. «Zu viele Ökonomen und Politiker modellieren die Gesellschaft als beständigen Kampf, von dem sie annehmen, dass er in der Natur vorherrscht; aber dieser Glaube fußt ausschließlich auf Projektion», so der niederländische Primatologe Frans de Waal. «Unsere Annahmen über die menschliche Natur bedürfen dringend einer umfassenden Überholung.»

 

Distanz halten, um einander herzlicher in die Arme zu nehmen

Nichts ist sicher, aber es könnte sein, dass uns diese Krise dabei hilft. Dass ein neues Bewusstsein für Abhängigkeit, Zusammengehörigkeit und Solidarität entsteht. «Ich weiß nicht, was Sie wahrnehmen», schrieb eine niederländische Psychiaterin und Mutter in einem Tweet, «aber ich sehe überall Menschen, die helfen wollen. Indem sie behördlichen Empfehlungen folgen oder etwas Praktisches wie Einkäufe für andere erledigen …»


Meine deutsche Lektorin berichtete mir von einem Zettel, den jemand in einem Mehrfamilienhaus aufgehängt hat:


«Liebe Nachbar*innen! Sollten Sie über 65 Jahre alt sein und ein geschwächtes Immunsystem haben, möchte ich Sie unterstützen, gesund zu bleiben. Ich gehöre nicht zur Risikogruppe und könnte Ihnen durch kleinere Besorgungen bzw. Einkäufe in den nächsten Wochen unter die Arme greifen. Falls Sie also Unterstützung brauchen, stecken Sie mir bitte einen Zettel an die Tür […] und hinterlassen Sie mir Ihre Telefonnummer. Gemeinsam steht man alles durch. Sie sind nicht alleine!»


Für eine Spezies, die sich so weiterentwickelt hat, dass sie Verbindungen knüpft und zusammenarbeitet, mutet es befremdlich an, unser Bedürfnis nach Kontakt zu unterdrücken. Die Menschen genießen Körperkontakt und finden Freude an der persönlichen Begegnung – aber jetzt müssen wir physisch Distanz halten.


Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir uns letzten Endes näherkommen, dass wir einander in dieser Krise erreichen. Wie Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte in dieser Woche sagte: «Lassen Sie uns heute Abstand halten, damit wir uns morgen umso herzlicher in die Arme nehmen […] können.»

Quellen
1) Enrico L Quarantelli, Conventional Beliefs and Counterintuitive Realities, Social Research: An International Quarterly of the Social Sciences, Band 75, Nr. 3 (2008), Seite 885
2) Jack Winocour (Hg.), The Story of the Titanic as Told by Its Survivors, Dover Publications (1960), Seite 33.”  

Rutger Bregman, geboren 1988, ist Historiker und einer der innovativsten Denker Europas. 2017 erschien sein Buch «Utopien für Realisten», 2020 folgte der «Im Grunde gut», das bisher in 46 Sprachen übersetzt wurde. Er lebt mit seiner Familie in New York.

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