Im Gespräch

Hinter den Kulissen des Lebens

Eine Geschichte über Festhalten und Loslassen, Himmel und Erde und das, was dazwischen ist

Interview mit Tamar Noort

Elke ist eine junge Pastorin, die in Köln arbeitet. Als sie eines Tages einer alten Dame am Sterbebett das Vaterunser sprechen soll, kommt ihr kein Wort über die Lippen. Sie hat den Text vergessen, und zwar sämtlicher Gebete. Ist das Gottdemenz? Elke beschließt, in die norddeutsche Provinz zu fahren, an den Ort ihrer Kindheit. Doch auch nach all den Jahren fühlt es sich seltsam an, mit ihren Eltern am Esstisch zu sitzen, wenn der vierte Platz leer bleibt. Elke trifft Eva wieder, die ehemalige Freundin ihres Bruders, der damals zu weit auf den See hinausschwamm. Und während sie am Ufer sitzt und aufs Wasser schaut, ahnt Elke, wo sie beginnen muss, nach den verloren gegangenen Worten zu suchen ...
Ein hinreißender Roman voller Leichtigkeit und Tiefe, wortgewandt und fantasievoll.

DAS INTERVIEW

Es gibt Ideen, Geschichten, Themen, von denen man weiß: Das muss raus, das muss ich machen. Genau den Eindruck hat man bei Ihrem Romandebüt «Die Ewigkeit ist ein guter Ort». Wie lange hat der Wunsch, genau dieses Buch zu schreiben, in Ihnen geschlummert?
Ich wollte schon lange einen Roman schreiben, der sich mit den Glaubenssätzen, mit denen wir aufwachsen, auseinandersetzt. Meiner Meinung nach gehört es zum Erwachsenwerden dazu, sich diesbezüglich zu positionieren. Wenn diese Glaubenssätze über Generationen internalisiert und weitergetragen werden, ist es aber gar nicht leicht, die Reibungsflächen überhaupt zu sehen. Den Prozess wollte ich sichtbar machen. Meine Hauptfigur Elke sollte herausfinden, wo sie steht – nicht als Theologin oder als Tochter eines Theologen, sondern als Mensch.

Elke, die Protagonistin des Romans, soll als Pastorin die Gemeinde ihres Vaters übernehmen. Auch in Ihrer eigenen niederländisch-deutschen Familie haben Religion, Kirche und Glauben eine wichtige Rolle gespielt. Möchten Sie uns ein bisschen über Ihren biografischen Background erzählen?
Mein Vater ist emeritierter Theologe, und auch meine Schwester promoviert gerade in Theologie. Religion, Kirche und Glauben waren integrale Bestandteile meiner Kindheit. Und ich war ein sehr frommes Kind. Ich war sicher, Gott sieht alles: auch das Nasepopeln oder Gummibärchenklauen. Gott war im wahrsten Sinne des Wortes ein allmächtiger Vater, und das war nicht unbedingt positiv besetzt. Aber als Kind gehörte das für mich dazu. Traditionen und Rituale, die kirchlich geprägt sind, habe ich ganz lange nicht hinterfragt.
Gleichzeitig habe ich aber auch etwas mitgenommen, was mich bis heute prägt: In der Kirche, in der Bibel, im Glauben dreht sich alles um das Wort. «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott»: Ich bin damit aufgewachsen, dass Worte einen besonderen Zauber entwickeln können, dass sie eine Bedeutung haben können, die jenseits dessen liegt, was ich als Buchstaben vor mir sehe. Diese verborgene Bedeutung von Sprache aufzuspüren, habe ich letztlich zu meinem Beruf gemacht.

Elke ist die innere Verbindung mit Gott abhandengekommen. Dass ihr ausgerechnet die Worte des «Vaterunser» entfallen sind, diagnostiziert sie als «Gottdemenz». Eine Google-Recherche ergibt, dass – bis auf einen lustigen Eintrag auf reimfrei.de («Gott, Demenz ist überall») – der Begriff nur bei Ihnen auftaucht. Ein Tamar-Noort-Neologismus sozusagen. Oder haben wir da etwas übersehen?
Nein, ich war selbst überrascht, dass der Begriff nicht existiert! Auch das Phänomen selbst gibt es nicht, jedenfalls habe ich noch von niemandem gehört, der eine derart selektive Gedächtnisstörung entwickelt hat.
Für mich war es aber ein wichtiges Bild für einen fundamentalen Verlust. Ich wollte keinen philosophischen Roman schreiben, in dem die Protagonistin sich auf einer abstrakten Ebene mit ihrem Glauben auseinandersetzt. Unser Weltbild und das, was wir glauben, setzt sich doch in den meisten Fällen eher aus Erfahrungen zusammen: Was wir in unserer Kindheit erleben, wie andere Menschen mit uns umgehen, welche Geschichten wir hören. Mir ging es um die Verflechtung von Glauben und Alltag. Eine «Gottdemenz», die sich in Elkes Alltag zu den unpassendsten Zeiten bemerkbar macht, eignete sich dafür gut.

Elke ist mit Glaubenssätzen und Traditionen aufgewachsen, die sie als Erwachsene übernommen hat, ohne sie infrage zu stellen. Das ist ja auch sehr bequem.

Sie haben einmal gesagt: «Ich interessiere mich für Menschen, die eine Sehnsucht in sich tragen: nach einem anderen Leben oder einem größeren Sinn. Die sich dadurch verletzlich zeigen.» Liegt man richtig mit der Vermutung, dass es in dem Roman mindestens so sehr um Identität und Sinnsuche?
Genau so ist es. Für mich stehen die Fragen nach Identität und Sinnsuche sogar im Vordergrund. Aber alles hängt natürlich eng zusammen. Elke ist mit Glaubenssätzen und Traditionen aufgewachsen, die sie als Erwachsene übernommen hat, ohne sie infrage zu stellen. Das ist ja auch sehr bequem. Menschen, die so behütet aufwachsen wie sie, bekommen ein Regelset mitgeliefert, eine Art Gebrauchsanweisung, nach der sie leben können. Aber wenn man diese Regeln nie infrage stellt, übernimmt man eine vorgefertigte Identität, die andere entworfen haben. Insofern ist das Buch eigentlich ein Coming-of-Age-Roman. Elke lernt, sich zu lösen von dem, was andere von ihr erwarten, und selbst Verantwortung zu übernehmen.

Kurzer Seitenblick auf Jan, den Mann an Elkes Seite. Er ist klug, kocht verteufelt gut, kauft Pfeffer in der Pfefferboutique und mag es, seine Freundin zu umsorgen – ein Mann wie man ihn sich besser nicht wünschen kann. Und plötzlich führt Frau Noort einen Typen ein, gegen den Jan nur verlieren kann: Lukas, «eine Mischung aus Kurt Cobain und nordischem Gott» – ein Motorradartist, der im Motodrom sein Leben riskiert. Woher haben Sie eigentlich all Ihr Wissen über das Steilwandfahren?
Vor Jahren habe ich mal im Kino einen Kurzfilm gesehen, der sich damit beschäftigt. Diese Welt hat mich seitdem nie losgelassen. Hier kommen Kunst und Zirkus zusammen, aber zugleich hat es eine tiefere Ebene, die mir gefällt. Es geht um Rhythmus, um Geschwindigkeit, um ewige Wiederkehr – und um den Tod, den man dabei herausfordert. Mich hat das an Virginia Woolfs «moments of being» erinnert: eine Erfahrung, die dich für einen kurzen Moment die ganze Gegenwart durchdringen lässt. Das mutet für mich schon fast spirituell an. Mir war wichtig zu zeigen, dass spirituelle Erlebnisse sich nicht auf Gebete oder einen Kirchenbesuch beschränken, sondern überall dort zu finden sind, wo wir bereit sind, uns im Hier und Jetzt zu verankern – sogar auf einem Motorrad.
Das ist es auch, was Elke zu Lukas hinzieht. Jan könnte Elke die Sterne vom Himmel kochen – es würde ihm nichts helfen. Er ist moralisch viel stärker aufgestellt als sie, obwohl er nicht an Gott glaubt und mit der Kirche nichts am Hut hat. Sein intuitiver moralischer Kompass kann aber auch tierisch nerven: Er weiß immer, was richtig ist. Lukas hingegen ist einfach ein Impulsgeber. Er kümmert sich ausschließlich um seine eigenen Angelegenheiten. Er führt Elke in diese neue Welt rund um das Steilwandfahren ein, aber er stellt ihr vollkommen frei, ob sie daran teilnimmt.

Trotz all der schweren Themen – Abschied und Tod, Trauer, Verlust und Sinnsuche – kommt der Roman wunderbar leichtfüßig daher, ob es um den bilingualen Papagei Gertrude, die Predigten on Demand (PoD) oder das kuriose Drama um die absackende Kirchenempore geht. Ist das Ihre Art des Umgangs mit der Glas-halb-voll-oder-halb-leer-Thematik, im Schweren das Leichte, im Traurigen das Heitere zu suchen?
Ich mag die kleinen Absurditäten des Lebens, die komisch und tragisch zugleich sind. Das spiegelt sich auf jeden Fall im Erzählton des Romans. Er war von Anfang an da, mit den allerersten Seiten des Buches. Der Humor war für mich wie eine Brücke zu den schweren Themen. Elke ist eine unterhaltsame Erzählerin, obwohl ihr Leben zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät. Sie hat ihre heitere Seite, ihren Lebensmut, nicht verloren, im Gegenteil. Sie kämpft um ihn.

«Aber dass du nicht an Gott glauben musst, um eine gute Pastorin zu sein, das weißt du, oder?» Das sagt im Roman die Pastorin Nadja – eine von Nadia Bolz-Weber, der Gründungspastorin von «House for All Sinners and Saints», inspirierte Figur. Was hat es damit auf sich?
Die Figur ist eine Hommage an alle Pastor:innen, die von der üblichen Norm abweichen. Wie Nadia Bolz-Weber, die in ihrem «House for All Sinners and Saints» Dragqueens, Agnostiker und Waffennarren zusammenbringt – in den bibeltreuen USA. Das muss man erst mal schaffen. Ist es nicht die größte Aufgabe einer Kirche, eine Gemeinschaft zu formen, in der Austausch möglich ist? Für die Zukunft ist das vielleicht sogar die größte Aufgabe überhaupt. Das ist nicht zu schaffen, wenn die Kirche darauf pocht, dass der Kern des Christentums ausschließlich der Glaube an Gott sei.

Denn eigentlich ist das Buch ein Plädoyer für den Augenblick. Für die Gegenwart. Für den einen Moment, in dem wir im Hier und Jetzt sind. 

Der Buchtitel «Die Ewigkeit ist ein schöner Ort» lädt geradezu ein, ihn mit einem «aber» zu erweitern, etwa so: «Die Ewigkeit ist ein schöner Ort, aber ... richtig eilig habe ich es nicht, dorthin zu kommen». Machen Sie uns Mut: Was könnte schön sein an der Ewigkeit (außer dass sie sehr lange dauert)?
Dafür bin ich nicht die Richtige! Ich habe keine Ahnung, ob die Ewigkeit ein schöner Ort ist. Ich habe es auch nicht eilig, dorthin zu kommen, ich bin sehr gerne am Leben. Insofern ist das «… aber» tatsächlich mitgedacht. Denn eigentlich ist das Buch ein Plädoyer für den Augenblick. Für die Gegenwart. Für den einen Moment, in dem wir im Hier und Jetzt sind.

Der Kirche und ihren Gemeinden laufen die Gläubigen weg, das ist bei den Protestanten nicht viel anders als bei den Katholiken. «Wir haben einfach nichts mehr zu bieten, was mit ihrem Leben zu tun hat», heißt es im Roman. Wie viel Hoffnung machen Ihnen «Maria 2.0» und andere Reforminitiativen für eine zeitgemäße Kirche?
Die evangelische Kirche hat errechnet, wie sich ihre Gemeinden entwickeln werden. Die Prognose ist, dass sich die Anzahl der Gemeindemitglieder bis 2060 halbiert. Insgesamt glauben noch etwa 58 Prozent der Menschen in Deutschland an einen Gott. Dennoch sehnen sich viele Menschen weiterhin nach Spiritualität oder einem tieferen Sinn. Leute gehen in Schweigeseminare, in Yogakurse oder finden Frieden in der Natur. Der Wunsch, hinter die Kulissen des Lebens zu blicken, bleibt auch ohne Glaube an Gott bestehen.
Mein Eindruck ist, dass Kirchen versuchen, diese Entwicklung aufzugreifen und sich als Orte des Wandels zu begreifen, in denen es um Gemeinschaft und Sinnsuche geht.

Was hat Sie eigentlich aus dem trubeligen Multikulti-Soziotop Köln-Ehrenfeld in ein norddeutsches Dorf bei Lüneburg verschlagen?
Ich bin Niederländerin, habe aber einen Teil meiner Jugend in Norddeutschland verbracht und mich im hohen Norden immer sehr zu Hause gefühlt. Auch Köln liebe ich sehr, vor allem Ehrenfeld, aber es ist eine Liebe, die auch gut auf Distanz funktioniert.

«Pellworm ist die kleine reizlose Schwester von Sylt … Pellworm ist wie ein schwarzes Loch, das alle Impulse von außen verschluckt und umwandelt in ein Nichts aus Deich und Himmel. Aber die Fischbrötchen sind gut.» Wollten Sie mit diesen Sätzen Ihre Chancen als writer in residence, als Inselschreiberin auf Pellworm, ein für alle Mal ruinieren?
Oh, das wäre schrecklich, ich möchte gerne noch einmal nach Pellworm reisen! Ich habe die Insel schon oft und immer sehr gern besucht. Sie besteht wirklich vor allem aus Deich und Himmel und sehr guten Fischbrötchen. Das ist aber ja doch auch sehr viel! Ich fahre zum Beispiel sehr gerne dorthin, wenn ich viel Stress habe. Zum Runterkommen ist die Insel perfekt. Eben weil sie hauptsächlich aus Deich und Himmel und sehr guten Fischbrötchen besteht.

Sie haben nach dem Studium (Kunst- und Medienwissenschaften, Anglistik) die Masterclass Non-Fiction an der Internationalen Filmschule Köln besucht; seit 2009 haben Sie als Regisseurin, Autorin und Producerin für nonfiktionale Formate (ZDF, Arte, 3sat) gearbeitet. Literatur und Film – wie mischt sich das in Ihrem beruflichen Alltag?
Als Regisseurin und TV-Autorin arbeite ich hauptsächlich für Wissenschaftsformate. Dabei habe ich zwangsläufig ganz andere Dinge im Blick als beim Schreiben – das Budget des Films, die Drehplanung, die visuelle Ebene, und vor allem: Ich darf mir nichts ausdenken! Beim Schreiben ist das Schönste für mich, dass ich Geschichten erfinden kann.

Die Ewigkeit ist ein guter Ort

«Ein literarisches Schmuckstück» (Ewald Arenz) - Eine Geschichte über Festhalten und Loslassen, Himmel und Erde und das, was dazwischen ist

Elke ist eine junge Pastorin, die in Köln arbeitet. Als sie eines Tages einer alten Dame am Sterbebett das Vaterunser sprechen soll, kommt ihr kein Wort über die Lippen. Sie hat den Text vergessen, und zwar sämtlicher Gebete. 
Ist das Gottdemenz?
Elke beschließt, in die norddeutsche Provinz zu fahren, an den Ort ihrer Kindheit. Doch auch nach all den Jahren fühlt es sich seltsam an, mit ihren Eltern am Esstisch zu sitzen, wenn der vierte Platz leer bleibt. Elke trifft Eva wieder, die ehemalige Freundin ihres Bruders, der damals zu weit auf den See hinausschwamm. Und während sie am Ufer sitzt und aufs Wasser schaut, ahnt Elke, wo sie beginnen muss, nach den verloren gegangenen Worten zu suchen.

Tamar Noort gewann mit diesem Debüt voller Leichtigkeit und Tiefe, wortgewandt und fantasievoll, den Hamburger Literaturpreis.

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Tamar Noort

Tamar Noort

Tamar Noort, geboren 1976 in Göttingen, ist in den Niederlanden aufgewachsen. Sie studierte Kunst- und Medienwissenschaften sowie Anglistik in Oldenburg und Newcastle upon Tyne und hat die Masterclass Non-Fiction an der Internationalen Filmschule Köln absolviert. Seit 2009 macht sie Dokumentationen für ZDF, Arte und 3sat mit dem Schwerpunkt Wissenschaft. Für einen Auszug aus ihrem Debüt «Die Ewigkeit ist ein guter Ort» gewann sie 2019 den Hamburger Literaturpreis. Sie war Stipendiatin im Writers´ Room Hamburg und in den Künstlerhäusern Worpswede. Tamar Noort lebt in der Nähe von Lüneburg.