Im Gespräch

«Kümmern ist alternativlos und unverhandelbar»

Fürsorge ist mehr als Arbeit: Warum unsere Gesellschaft ein neues Miteinander braucht

Susanne Mierau lächelt in die Kamera, im Hintergrund ist eine Straße und eine Blumenwiese zu sehen
© Dorothea Vesper

Alle Menschen benötigen Fürsorge. Ohne Fürsorge können Kinder nicht groß, Kranke nicht gesund, ältere Menschen nicht alt werden. Fürsorge hält die Gesellschaft am Laufen. Doch warum wird Fürsorge als gesellschaftlicher Wert oft vernachlässigt? Die Bestsellerautorin Susanne Mierau schreibt in ihrem neuen Buch darüber, wie wichtig ein gutes Miteinander ist. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen zu einer neuen Haltung finden und die Strukturen grundlegend verändern. In einem flammenden, warmherzigen und lösungsorientierten Plädoyer zeigt sie, was passieren muss, damit dieses Land nicht sein eigenes Fundament zerstört.

DAS INTERVIEW

Ihre Homepage steht unter dem Motto «Bindung ist mein Lebensthema». Dass sich Bindungserfahrungen/Care/Fürsorge als Thema wie ein roter Faden durch Ihr Leben ziehen, wie ist das biografisch zu erklären?
Bindung, Care und Fürsorge beschäftigen mich tatsächlich schon seit dem Jugendalter. Das Interesse daran hängt zweifellos auch mit meiner eigenen Biografie zusammen. Mit dem Wunsch zu verstehen, warum Menschen wie handeln, warum meine eigene Kindheit so war, wie sie war, und was davon mich wie geprägt hat. Viele zufällige Ereignisse haben meine Sicht und meine Interessen geprägt und prägen sie weiterhin. Angefangen damit, als viertes Kind in den 1980ern in eine Patchworkfamilie geboren worden zu sein, die Drogenabhängigkeit und der frühe Tod eines meiner Brüder, die persönlichen Begegnungen mit Menschen, die im bezahlten Care-Erwerbsbereich tätig waren, und die Möglichkeit, schon in der Jugend dort Praktika machen zu dürfen. Es war ein Glück, während meines Studiums auf den Entwicklungspsychologen und ersten Kleinkindpädagogen Kuno Beller zu treffen, bei ihm als studentische Mitarbeiterin arbeiten und intensiv von ihm lernen zu können. Und es war auch ein Glücksfall, im Studium eine Familienbegleiterin kennenzulernen und die für das Studium notwendigen Praktika in Kitas und im Geburtshaus absolvieren zu können. Meine drei Schwangerschaften, die Geburten und die Begleitung meiner Kinder, von denen sich eines im Autismus-Spektrum befindet, sind auch Meilensteine meines Entwicklungswegs. Gerade die persönlichen Erfahrungen als Freundin, Mutter, Partnerin, Tochter haben mich jenseits all der verinnerlichten Theorie viel gelehrt. Erfahrungen wie die Totenwache am Bett meiner Großmutter oder das Begleiten meines sterbenden Vaters im Krankenhaus haben mich geprägt und meinen Blick auf dieses Tabuthema geöffnet. So gehen und gingen Theorie und Praxis bei mir seit vielen Jahren Hand in Hand.

Andere Sprachen enthalten reichere, emotionalere Wörter für alles, was mit dem Umsorgen von Menschen zu tun hat, ob im Walisischen, im Arabischen oder in der Sprache der Bantu und Aborigines. Wie sehr hat der nicht allzu hohe gesellschaftliche Stellenwert von Care/Care-Arbeit mit der Begrenztheit unserer Sprache zu tun?
Unsere Sprache ist unzulänglich in Bezug darauf, die Komplexität von Care abzubilden; sie begrenzt unser Denken und Fühlen und damit unser Handeln. Das beginnt schon damit, dass wir das Wort «Care» aus dem englischsprachigen Raum übernehmen mussten, da es die Vielschichtigkeit dessen, was wir meinen, besser abbildet als das deutsche «Fürsorge». Für bestimmte Arten von Verbindung zu anderen Menschen fehlen uns einfach die Worte, denken wir nur daran, dass einige Freund*innenschaften uns näherstehen als Familie. Ist das Freund*innenschaft? Ist das beste Freund*innenschaft? Was genau ist es? Das Umarmtwerden durch den anderen Elternteil, wenn gerade alles so anstrengend ist und man mit einer Umarmung vermittelt bekommt: «Wir schaffen das, das wird schon wieder» – das ist eine ganz andere Umarmung als die zur Begrüßung einer Freundin. Wenn ich eines meiner Kinder in den Armen halte, umarme ich es anders als meinen Partner und drücke mit dieser Umarmung anderes aus.
Aber auch für die Gefühlswelt rund um Care fehlen uns Worte: Wie kann das Gefühl benannt werden von Liebe zum Kind und gleichzeitiger Erschöpfung durch die Begleitung seines Alltags? Wie bezeichnen wir die Müdigkeit, die wir spüren, wenn wir durch viele Nächte ein zahnendes oder krankes Baby begleiten? Wir wissen: Diese Art von Müdigkeit fühlt sich anders an als die nach einem durchgemachten Partywochenende. Und wie beschreiben wir das Gefühl, einen geliebten Menschen sterben zu lassen, ihn nicht gehen lassen zu wollen, aber zu wissen, dass es so richtig ist?

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Sie haben für sich ein Orikì, ein persönliches Mantra, formuliert (auch vielleicht eine Reaktion auf die emotionale Armut unserer Sprache). Wie, wann, in welchen Situationen hilft es Ihnen?
Die Anregung der Bestsellerautorin Luvvie Ajayi Jones in ihrem «Handbuch für Unruhestifterinnen», sich ein persönliches Mantra zu erstellen, das einen selbst in den Kontext der eigenen Beziehungen stellt, finde ich sehr wertvoll. Es gibt im Leben Situationen, in denen wir uns einsam fühlen oder losgelöst und nicht wissen, an wen wir uns wie wenden können. Sich dann zu sagen, wer ich bin, woher ich komme und zu wem ich gehöre, kann diese Einsamkeit und Isolation lösen. Es zeigt: Du bist ein Teil einer Gruppe und auch ein Teil einer Geschichte. Das bettet uns in einen größeren Zusammenhang ein und nimmt zugleich auch etwas Last von den eigenen Schultern. Das Wissen um Zugehörigkeit stärkt uns, denn schließlich ist das Miteinander und Zugehörigkeit das, wonach wir immer wieder streben und was uns Sicherheit gibt.

Wir stehen ja in der Psychologie und Pädagogik noch ziemlich am Anfang des Verstehens der Entwicklung des Menschen und seiner Persönlichkeit

In den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten haben Sie neben Ihrer wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeit (und der eigenen «Familien-Arbeit») noch zig Zusatzausbildungen absolviert: Stillberaterin, Babymassage, Geburtsvorbereiterin, Familienbegleiterin, Heilpraktik, Klangmassage, medizinische Ganzkörpermassage, Phytotherapie, ressourcenorientierte Traumatherapie … Gibt es in diesem weiten Feld überhaupt Bereiche, in denen Sie sich NICHT (allzu sehr) auskennen?
Leider noch viel zu viele. Wir stehen ja in der Psychologie und Pädagogik noch ziemlich am Anfang des Verstehens der Entwicklung des Menschen und seiner Persönlichkeit: was alles prägende Einflüsse sind, welche Rahmenbedingungen zentral sind, wie mentale und körperliche Gesundheit zusammenhängen und durch unsere Umwelt beeinflusst werden. Pädagogik und Psychologie sind – wie viele andere Wissenschaften – zudem lange geprägt worden durch den Blick der männlichen Forschenden mit einem speziellen Fokus auf klassische Rollenbilder – auch hier gibt es viel Überarbeitungsbedarf. Daher ist es meiner Meinung nach wichtig, viele Disziplinen zu verbinden und sich beständig weiterzubilden.

Wie wichtig sind die Ideen des 2019 gestorbenen dänischen Therapeuten Jesper Juul für Ihre Arbeit als Kleinkindpädagogin und Familienberaterin?
Jesper Juul hat das bedürfnisorientierte Familienleben und dessen Verbreitung in der Öffentlichkeit entscheidend geprägt. Ich empfehle seine Bücher auch heute noch gerne, besonders sein Buch zu Aggression. Er hatte die Gabe, Eltern sehr entspannt an dem Punkt abzuholen, wo sie stehen, und ihnen ohne Beschämung Neues zu vermitteln. Das ist für die Arbeit mit Familien sehr wichtig und vorbildhaft. Auch seine Besonnenheit, sich Zeit für Antworten zu nehmen, ist für mich bedeutsam.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Möglichkeit haben, den großen Krisen unserer Zeit optimistisch zu begegnen.

Für das, was Ihnen in den Büchern und Workshops am Herzen liegt, haben Sie eine wunderschöne Formulierung gefunden: «Fürsorge ist das Garn, das die bunte Patchworkdecke unseres Lebens zusammenhält» … weil ohne gesellschaftliche Fürsorge die Menschheit schnell am Ende wäre, auch ohne Krisen, Kriege und Klimakollaps. Woher nehmen Sie die Kraft, einigermaßen gelassen und optimistisch in die Zukunft zu blicken?
Ich vertraue darauf, dass Menschen im Grunde gut sind, wie es Rutger Bregman so schön beschreibt. Wenn wir uns zu den brennenden Themen unserer Zeit Umfragedaten ansehen, sehen wir, dass viele Menschen durchaus für den Klimaschutz sind. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Möglichkeit haben, den großen Krisen unserer Zeit optimistisch zu begegnen. Nämlich dann, wenn wir es schaffen, uns wirklich für diese Themen zu verbünden, Öffentlichkeit für sinnvolle Lösungsansätze schaffen und gemeinsam vorgehen. Das betrifft auch die Care-Krise: Wir sind wirklich viele Menschen, die unter ihr leiden; wir müssen uns verbünden, auch wenn Care sehr viele Facetten im bezahlten und unbezahlten Care-Arbeitssektor hat und es schwer ist, das auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Aber auch hier gilt wieder: Wir schaffen das nur zusammen.

Spannend fand ich, mit welcher Vehemenz Sie für einen anderen Blick auf Kindheit plädieren. Wir haben, schreiben Sie, «Kindheit zu einer Insel gemacht, herausgelöst aus dem Alltagsleben, aufgeladen mit Förderung, Erlebnis-Inseln und Behandlung statt Miteinander». Was könnten, was sollten wir Eltern von heute lernen und anders machen?
An vielen Stellen ist das Leben mit Kindern schwer, weil die Rahmenbedingungen so schwierig sind. Wir haben Kindheit herausgelöst aus unserer Mitte und dem Miteinander. Das betrifft sowohl die strukturellen Gegebenheiten wie Orte für Kinder (Kindergarten, Schule, Spielplatz, Jugendzentrum), außerhalb derer sie und Jugendliche nicht gerne gesehen werden, denken wir beispielsweise an die kinderfreien Restaurants, Stillverbote in Cafés, nicht zu betretende Rasenflächen usw. Aber denken wir auch an unsere Vorstellung davon, wie wir Kinder glücklich machen können und was Kinder brauchen. Wir handeln im guten Glauben daran, dass Sportkurse, Musikstunden, Hüpfburgenlandschaften und nach unserem Alltagsvorbild exakt nachgebildete Kinderküchen, -werkzeuge und Spielzeugstaubsauger unseren Kindern Freude machen und sie in der Entwicklung von Fertigkeiten unterstützen. Dabei wäre es – auch in Hinblick auf unser Konsumverhalten – viel sinnvoller, Kinder in unseren Alltag zu integrieren: sie in der Küche mithelfen zu lassen, sie den echten Staubsauger bedienen zu lassen, sie im Zusammensein mit Erwachsenen und Kindern unterschiedlichen Alters herumtollen zu lassen statt größtenteils in altershomogenen Gruppen. Denn sie wollen ja eigentlich lernen, die echte Welt zu begreifen, und wirkliche (soziale) Erfahrungen machen. Genau das brauchen sie für ihre Entwicklung. Dass wir sie aus dieser Erfahrungswelt ausgeschlossen haben, macht etwas mit ihnen. Aber auch mit der Erwachsenengesellschaft, die mehr und mehr vergisst, wie Kinder sind, was sie brauchen. Die aus dem Blick verliert, dass Kinder keine kleinen Erwachsene sind, sondern sich eben wie Kinder verhalten – und dass das nicht schlimm ist, auch nicht im Supermarkt.

Ist es nicht ein Trauerspiel, dass all die kreativen, von Herzen kommenden Solidaritätsbekundungen für die Pflegekräfte, die uns durch die Corona-Pandemie begleitet und gebracht haben, derart schnell wieder zum Erliegen kommen? Haben Sie das so erwartet?
Leider war erwartbar, dass Solidaritätsbekundungen und Beifallklatschen allein nicht reichen, um Care als Tätigkeit aufzuwerten. Dafür ist die Abwertung von Care viel zu tief in unserer Gesellschaft verankert. Um etwas nachhaltig zu verändern, müssen wir uns zusammentun. Die Tragweite und Bedeutung von Care muss spürbar werden, beispielsweise durch einen gemeinsamen Care-Streik, und gleichzeitig muss an der emotionalen Aufwertung von Care von Grund auf gearbeitet werden. Care auch öffentlich in den Mittelpunkt zu stellen, den es in unser aller Leben schon immer einnimmt, das ist keine einfache Aufgabe. Dafür brauchen wir einen langen Atem – aber es ist möglich.

Susanne Mierau

Susanne Mierau

Susanne Mierau, 1980 geboren, ist eine der hierzulande bekanntesten Expertinnen im Bereich bindungs- und bedürfnisorientiertes Familienleben. Als Diplom-Pädagogin hat sie zunächst an der Freien Universität Berlin in Studium und Lehre gearbeitet, bevor sie eine eigene Praxis für Familienbegleitung eröffnet hat. Ihr Blog »Geborgen Wachsen« ist – wie die dazugehörigen Social-Media-Kanäle und das Geborgen-Wachsen-Forum – seit 2012 Anlaufpunkt für Familien zu allen Fragen rund um den Familienalltag. Susanne Mierau leitet Workshops, hält Vorträge für Eltern und Fachpersonen und hat bereits diverse erfolgreiche Elternratgeber veröffentlicht. Sie ist Mutter von drei Kindern.