Alle Menschen benötigen Fürsorge. Ohne Fürsorge können Kinder nicht groß, Kranke nicht gesund, ältere Menschen nicht alt werden. Fürsorge hält die Gesellschaft am Laufen. Doch warum wird Fürsorge als gesellschaftlicher Wert oft vernachlässigt? Die Bestsellerautorin Susanne Mierau schreibt in ihrem neuen Buch darüber, wie wichtig ein gutes Miteinander ist. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen zu einer neuen Haltung finden und die Strukturen grundlegend verändern. In einem flammenden, warmherzigen und lösungsorientierten Plädoyer zeigt sie, was passieren muss, damit dieses Land nicht sein eigenes Fundament zerstört.
DAS INTERVIEW
Ihre Homepage steht unter dem Motto «Bindung ist mein Lebensthema». Dass sich Bindungserfahrungen/Care/Fürsorge als Thema wie ein roter Faden durch Ihr Leben ziehen, wie ist das biografisch zu erklären?
Bindung, Care und Fürsorge beschäftigen mich tatsächlich schon seit dem Jugendalter. Das Interesse daran hängt zweifellos auch mit meiner eigenen Biografie zusammen. Mit dem Wunsch zu verstehen, warum Menschen wie handeln, warum meine eigene Kindheit so war, wie sie war, und was davon mich wie geprägt hat. Viele zufällige Ereignisse haben meine Sicht und meine Interessen geprägt und prägen sie weiterhin. Angefangen damit, als viertes Kind in den 1980ern in eine Patchworkfamilie geboren worden zu sein, die Drogenabhängigkeit und der frühe Tod eines meiner Brüder, die persönlichen Begegnungen mit Menschen, die im bezahlten Care-Erwerbsbereich tätig waren, und die Möglichkeit, schon in der Jugend dort Praktika machen zu dürfen. Es war ein Glück, während meines Studiums auf den Entwicklungspsychologen und ersten Kleinkindpädagogen Kuno Beller zu treffen, bei ihm als studentische Mitarbeiterin arbeiten und intensiv von ihm lernen zu können. Und es war auch ein Glücksfall, im Studium eine Familienbegleiterin kennenzulernen und die für das Studium notwendigen Praktika in Kitas und im Geburtshaus absolvieren zu können. Meine drei Schwangerschaften, die Geburten und die Begleitung meiner Kinder, von denen sich eines im Autismus-Spektrum befindet, sind auch Meilensteine meines Entwicklungswegs. Gerade die persönlichen Erfahrungen als Freundin, Mutter, Partnerin, Tochter haben mich jenseits all der verinnerlichten Theorie viel gelehrt. Erfahrungen wie die Totenwache am Bett meiner Großmutter oder das Begleiten meines sterbenden Vaters im Krankenhaus haben mich geprägt und meinen Blick auf dieses Tabuthema geöffnet. So gehen und gingen Theorie und Praxis bei mir seit vielen Jahren Hand in Hand.
Andere Sprachen enthalten reichere, emotionalere Wörter für alles, was mit dem Umsorgen von Menschen zu tun hat, ob im Walisischen, im Arabischen oder in der Sprache der Bantu und Aborigines. Wie sehr hat der nicht allzu hohe gesellschaftliche Stellenwert von Care/Care-Arbeit mit der Begrenztheit unserer Sprache zu tun?
Unsere Sprache ist unzulänglich in Bezug darauf, die Komplexität von Care abzubilden; sie begrenzt unser Denken und Fühlen und damit unser Handeln. Das beginnt schon damit, dass wir das Wort «Care» aus dem englischsprachigen Raum übernehmen mussten, da es die Vielschichtigkeit dessen, was wir meinen, besser abbildet als das deutsche «Fürsorge». Für bestimmte Arten von Verbindung zu anderen Menschen fehlen uns einfach die Worte, denken wir nur daran, dass einige Freund*innenschaften uns näherstehen als Familie. Ist das Freund*innenschaft? Ist das beste Freund*innenschaft? Was genau ist es? Das Umarmtwerden durch den anderen Elternteil, wenn gerade alles so anstrengend ist und man mit einer Umarmung vermittelt bekommt: «Wir schaffen das, das wird schon wieder» – das ist eine ganz andere Umarmung als die zur Begrüßung einer Freundin. Wenn ich eines meiner Kinder in den Armen halte, umarme ich es anders als meinen Partner und drücke mit dieser Umarmung anderes aus.
Aber auch für die Gefühlswelt rund um Care fehlen uns Worte: Wie kann das Gefühl benannt werden von Liebe zum Kind und gleichzeitiger Erschöpfung durch die Begleitung seines Alltags? Wie bezeichnen wir die Müdigkeit, die wir spüren, wenn wir durch viele Nächte ein zahnendes oder krankes Baby begleiten? Wir wissen: Diese Art von Müdigkeit fühlt sich anders an als die nach einem durchgemachten Partywochenende. Und wie beschreiben wir das Gefühl, einen geliebten Menschen sterben zu lassen, ihn nicht gehen lassen zu wollen, aber zu wissen, dass es so richtig ist?