
Ein Agent auf den Spuren eines Phantoms, einer verlorenen Liebe und einer zerstörerischen Urkraft: der Atomtechnik.
Bestsellerautor Steffen Kopetzky im Interview zu seinem neuen Roman «Atom»

Wie schon bei «Monschau» inmitten der Pandemie oder bei «Damenopfer» mit seinem deutsch-russischen Thema – seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wieder hochaktuell – treffen Sie mit Ihren historisch-politischen Romanen immer wieder in das ängstliche Herz unserer Gegenwart. In «Atom» schildern Sie die Entstehung der ballistischen Raketen und den Wettlauf um die Atombombe. Seit wann haben Sie daran gearbeitet?
Der «Atom»-Stoff beschäftigt mich seit 2018, seitdem gab es laufend vorbereitende Recherchen. Die Publikation war immer für Frühling 2025 geplant, wenn sich das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Ersteinsatz der Atombombe über Hiroshima zum achtzigsten Mal jähren.
Worum genau geht es in «Atom»?
Es geht um den jungen britischen Physiker Simon Batley, der in den Zwanzigerjahren in Berlin studiert, dort schon dem englischen Geheimdienst zuarbeitet und mit Beginn des Zweiten Weltkriegs in das Innere der Geheimwaffen-Spionage versetzt wird. Der Roman schildert, wie Simon die Liebe seines Lebens findet, verliert und lange sucht, dafür auch in Feindesland – nach Deutschland – geht. Nicht zuletzt ihretwegen nimmt seine Karriere als Spion Fahrt auf. Schließlich lernt Simon aber auch, dass die moralischen Kategorien von Unschuld und Schuld für die große Politik keine Rolle spielen. Historisch erzählt der Roman noch mehr: Es geht um die trotz des Films «Oppenheimer» und des gut dokumentierten «Manhattan Project» weitgehend unbekannte Hintergrundgeschichte der Entstehung und des Ersteinsatzes der Atombombe.


Atom
Atom
Warum haben Sie mit der Hauptfigur Simon Batley eine britische Perspektive gewählt?
Ich habe lange überlegt, wie ich die zwei Themen Raketen- und Atomforschung zusammenbringen könnte. Das waren damals Toptechnologien, da wollten alle vorn dabei sein. Wie heute bei der künstlichen Intelligenz. Bei einer deutschen Figur, einem deutschen Helden, wäre das Problem, dass er niemals einen solchen internationalen Überblick hätte haben können, wie ihn die britische Wissenschaftsspionage tatsächlich hatte, noch dazu in beide Richtungen des Atlantiks.
Die Briten betrieben in Bletchley Park eine umfassende Abhörmaschinerie. Diese Informationsüberlegenheit hat vermutlich den Krieg mitentschieden. Also musste es ein Engländer sein.
Aber immerhin hat Simon ja diesen deutschen Background. Er lebte zehn Jahre in Berlin und promovierte in Dresden, dadurch wird er einer jener sympathischen, proeuropäischen englischen Spione, wie man sie etwa im Werk von John le Carré so häufig findet.
Den letzten Ausschlag gab dann, dass ich von den britischen Operationen Foxley und Little Foxley hörte. Das waren Vorhaben zur gezielten Tötung von Hitler und einem guten Dutzend hochrangiger Funktionsträger des Dritten Reichs, darunter auch Hans Kammler, der im Roman eine zentrale Figur ist. Little Foxley dokumentierte beinahe täglich das Bewegungsprofil von Kammler. Die Briten hatten ihn genau im Blick.
Steckt in «Atom» mehr Wissenschafts- oder mehr Agententhriller?
Im Grunde durchdringen sich beide Aspekte. Mein Ziel für den Leser war es, einen Roman zu schreiben, den man in einem Stück durchlesen will, weil er so spannend und gleichzeitig lehrreich ist. Die Form sollte dem entsprechen: komplexer Inhalt, glasklarer Aufbau. In Verehrung von Thomas Pynchon, der für mich so etwas wie der Evangelist Johannes und Homer in einer Person ist, sollte seine Dramaturgie einer Raketenparabel gleichen: langsamer Aufstieg, größte Höhe am V-Punkt, um dann, sich immerzu beschleunigend, rasant zum Ende zu kommen.
Bedrückt es Sie, dass Raketen und Atomwaffen in die Nachrichten und damit ins allgemeine Bewusstsein zurückgekehrt sind?
Die Bedrohung durch diese Technologie war leider niemals weg, ganz im Gegenteil. Atomraketen sind heute der ganze Stolz des bitterarmen Nordkorea, der Iran strebt nach der Bombe. Die Inder und die Chinesen testen laufend neue Raketen, die Russen führen gerade «Haselstrauch» vor, die «Oreschnik». Gerade durch den russischen Krieg zur Vernichtung des ukrainischen Staats werden wir beinahe täglich wieder daran erinnert – indem uns die Kreml-Propaganda unablässig darauf hinweist, dass Russland über Atomwaffen verfügt und laut über ihre Verwendung nachdenkt.
So kommt dem Moment in der Geschichte, in dem diese Technologie zum ersten (und bislang letzten) Mal eingesetzt wurde, eine besondere Bedeutung zu – nicht nur das Atom wurde gespalten, auch die Geschichte wurde in ein Vorher und ein Nachher geschnitten. Hiroshima und Nagasaki bilden das zentrale strategische Ereignis des Zweiten Weltkriegs, zwar an seinem Ende, aber es bedeutete den Sprung auf die nächste Ebene. Das Drachenei, das ausgebrütet wurde, ist nichts Geringeres als die Fähigkeit zur Selbstzerstörung der Menschheit. Der Friedensnobelpreis 2024 an die japanische Anti-Atomwaffen-Organisation Nihon Hidankyo ist also ebenso folgerichtig, weil auch er zeigt, dass wir immer noch im Bann des Atoms stehen. Was wird wohl erst die KI damit anstellen?
Auf die Spaltung des Atoms folgte die Spaltung der Welt.
Der Kalte Krieg begann schon, während der Zweite Weltkrieg noch ausgefochten wurde. Spätestens mit dem Scheitern der deutschen Ardennenoffensive war die Anti-Hitler-Koalition innerlich zerbrochen, denn hier wurde klar, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Also konnten sich da schon seine Gegner neu aufstellen, der Westen musste nicht mehr aus Not mit Stalins Russland paktieren. Umso wichtiger wurde nun das zukunftsträchtige technologische Potenzial des Dritten Reichs, das die USA wie die UdSSR unbedingt haben wollten. Die Verbrechen der Nazis waren das eine – ihre Technologie das andere. Für diese Technik und ihren kontrollierten Transfer steht wie kein anderer Hans Kammler.
Könnten Sie das noch etwas verdeutlichen?
Gehen wir von Wernher von Braun aus. Er ist sozusagen die «positive», lichte Gegengestalt zu Hans Kammler. Von Braun ist weltbekannt. Der Mann, der für Amerika die Mondrakete baute. Das weiß doch jeder. Aber kaum jemand weiß, dass es da auch diesen SS-Obergruppenführer Hans Kammler gegeben hat, der es ermöglicht hatte, dass es trotz der absoluten Lufthoheit der Alliierten weiterging mit der Entwicklung und der Erprobung der Raketen.
Kammler hatte als Bauchef der SS begonnen, etwa als Architekt von Auschwitz, ein hocheffizienter, skrupelloser Bauherr des Todes. In den letzten beiden Kriegsjahren erledigte er für Hitler und Himmler immer mehr Aufgaben. Er schaffte die Sklavenarbeiter aus den Konzentrationslagern heran, um die unterirdischen Fabriken zu errichten, er kontrollierte die Lastwagen, Lokomotiven, die Ressourcen, übernahm irgendwann aber auch ganze Technologiezweige wie die Düsenjäger oder den Raketenbau. Es war Kammler, von dem die Amerikaner die Raketenspezialisten um von Braun im Paket bekamen, und er hatte noch viele andere «Baustellen». Aber Kammler ist praktisch unbekannt geblieben. Angesichts der Tatsache, dass er wohl der handlungsmächtigste Nazi-Funktionär der letzten Tage des Dritten Reichs und der Herr über seine Geheimwaffen war, ist das doch recht verwunderlich.
Hans Kammler ist neben Rudolf Heß, Winston Churchill, R. V. Jones, Eric Welsh, Otto Frisch, Kim Philby, Ian Fleming und vielen anderen eine der historischen Figuren, die im Roman auftreten. Aber die Erzählung bleibt doch sehr stark bei Simon Batley. Warum?
Die literarische Herausforderung war, diesen komplexen Stoff spannend zu erzählen, in dem ganz unterschiedliche Themen zusammenkommen: die Entwicklung der militärischen Geheimtechnik während des Zweiten Weltkriegs, die Entstehung der modernen Spionage, das Ineinander von Agentenberichten und reinen Zufällen, das dann schließlich etwa zum «Manhattan Projekt», der Entwicklung der Atombombe, geführt hat; und nicht zuletzt wollte ich den Zweiten Weltkrieg selbst und seine entsetzlichen Zerstörungen erzählen, und all das, was er den Menschen angetan hat. Dafür ist Simon Batley der ideale Held, der die Handlung voranbringt, auch auf einer emotionalen Ebene. Ich habe mich selten so stark mit einer Figur identifiziert wie mit ihm. Simon ist der Verbinder.
So wird er auch am Anfang vorgestellt. «Verbinder» ist eine zentrale Position im Rugby, der «Fly-Half». Die anderen Teile tragen gleichfalls Titel aus dem Rugby – und Sie erzählen am Rande auch die Geschichte dieses «Barbarensports, der von Gentlemen gespielt wird», wie Oscar Wilde ihn genannt hat. Welche Bedeutung hat das Rugby?
Ich suchte nach einer typischen, eher kleinen englischen Industriestadt in den Midlands, aus der mein Held kommen sollte. Rugby City, zwischen London und Coventry gelegen, war dafür sehr geeignet. Ich wusste zunächst nicht, dass der Sport aus dieser Stadt stammt. Das Erste, was ich dann spannend fand, war, dass Rugby aus einem Regelbruch hervorging, danach aber selbst sehr viele Regeln entwickelt hat. Das ist ein widersprüchliches Verhältnis. Damit ist Rugby auch sinnbildlich für Imperien wie das englische: Das Reich beginnt mit einem Bruch, einer Aggression – und verteidigt das dann als Setzung von Recht und Normalität.
Abgesehen davon gibt es beinahe in jedem meiner Romane eine Beschäftigung mit Spielen: Strategiespiele in «Risiko», Poker in «Propaganda», zuletzt in «Damenopfer» Schach. Aber ich hatte noch nie ein Feldspiel. Das fand ich sehr passend – denn Geheimdienstarbeit beruht auf Mannschaftsleistung, auch wenn immer der einsame Agent thematisiert wird. Schließlich gleicht auch das Finale des Romans dem Spielzug der «Gasse»: das Ringen um die Kontrolle des Balls bis zur letzten Sekunde.
Inwieweit knüpft «Atom» an Ihre bisherigen historisch-politischen Romane an?
«Atom» bildet Mittelstück und Herz der fünf Romane, die ich in den letzten zehn Jahren veröffentlichen konnte. Auslöser für meine Beschäftigung mit Geopolitik war aber 9/11. Wie beinahe jeder, der 2001 schon etwas älter war, werde ich nie vergessen, wo ich mich damals aufhielt. Ich checkte gerade in ein Hotelzimmer in Baden-Baden ein, und da es damals noch keine Smartphones gab, machte ich den Fernseher an. Die brennenden Türme in New York auf allen Kanälen gaben mir das beunruhigende Gefühl, dass gerade etwas zu Ende gegangen war oder etwas angefangen hatte – so wie das Wortspiel Churchills: Erleben wir den Anfang vom Ende, oder war das nur das Ende des Anfangs? Wie wir heute wissen, markierte 9/11 beides, den Zerfall der alten Zwischenkriegsordnung und den Beginn des Ringens um eine multipolare Welt, wie wir das heute erleben.
Ich begann damals aber erst einmal, mich mit den Hintergründen des politischen Islam zu beschäftigen, wollte ihn auch in seiner Geschichte verstehen und war dann erstaunt, als ich feststellte, dass das Auswärtige Amt des Deutschen Kaiserreichs im Herbst 1914 einen Masterplan zur islamischen Weltrevolution ersonnen und sich daran gemacht hatte, diesen umzusetzen. Zentrales Land darin: Afghanistan. Während also Anfang der 2000er-Jahre der große weltweite Krieg gegen den Terror, der Irakkrieg und die Besetzung Afghanistans begannen, arbeitete ich an «Risiko». Der Stoff ließ mich nicht mehr los, und mit den Schwingen eines Greifs trug er mich in den Hürtgenwald, das wurde «Propaganda». Und so kam ich von einem Roman zum anderen, fünf Bücher, die insgesamt einen Zeitraum von 1914 bis 1971 umfassen, zwischen Erstem Weltkrieg und Vietnamkrieg. «Atom» ist nun so etwas wie der ins Zentrum einzusetzende Brennstab. Ich hoffe, dass meine historisch-politischen Romane dabei helfen, die Konstanten und Kräfte der Geopolitik besser zu verstehen.