Im Gespräch

Petra Oelker über ihren neuen historischen Roman «Das Haus am Gänsemarkt»

In ihrem großen neuen Roman «Das Haus am Gänsemarkt» erzählt Petra Oelker vom bewegenden Schicksal einer hanseatischen Kaufmannsfamilie während der Franzosenzeit.

Petra Oelker im Interview
© Thorsten Wulff

In Ihrem neuen Roman «Das Haus am Gänsemarkt» zeichnen Sie ein großes Panorama der Franzosenzeit am Beispiel einer hanseatischen Kaufmannsfamilie. Was bedeutet die Besetzung der Stadt durch die Truppen Napoleons für die Familie Brestetten? 

Als recht wohlhabende und gut vernetzte hanseatische Familie haben die Brestettens wie viele andere von der neuen französischen Verwaltung Fortschritt erwartet, aber sie müssen die Ausplünderung und den Niedergang ihrer Stadt erleben. Arnold Brestetten, Herr des Hauses, bemühte sich lange um Anpassung an die neuen herrschenden Instanzen. Spätestens als sein Haus von einem französischen Offizier und dessen Entourage besetzt wird und auch seine Geschäfte durch die Kontinentalsperre leiden, wird ihm klar, dass all das nichts mit den Idealen der Französischen Revolution gemein hat. 
Ihr Leben wird bescheidener, aber immerhin reichen ihre Ressourcen. Jedes Familienmitglied erlebt die Folgen der Annexion auf eigene Weise. Der älteste Sohn wird auf Napoleons „Einladung“ in Frankreich ausgebildet, der jüngere gerät in einen Aufstand und will im Widerstand für Deutschland zum Helden werden, eine der Töchter träumt von Paris und verlobt sich mit einem eleganten französischen Offizier, der alte Patriarch hütet auf dem Landgut grimmig Familienschätze vor den beständig konfiszierenden Franzosen … 
Und Johanna, die eher stille Dame des Hauses, lernt es, pragmatisch zu handeln, und trifft in dieser wirren Zeit eine alte, ganz und gar nicht standesgemäße Liebe wieder …

Welche besondere Rolle spielt Sophia, eine der Hauptfiguren, in der Familie?

Johanna Brestettens Nichte ist in London aufgewachsen, Feindesland für die Franzosen. Ihre Eltern halten sich anno 1812 längst in Amerika auf, wegen des Krieges konnte Sophia ihnen nicht folgen. Sie ist willkommen und fühlt sich wohl im Haus am Gänsemarkt. Als junge Frau mit einer unkonventionelleren Erziehung blickt sie unbefangener und wissbegieriger auf das zunehmend dramatische Geschehen in der Familie, der vielschichtigen Stadt, auf die Besatzung und das Kriegsgeschehen. Sie wird bald eine Art Bindeglied zwischen den Fraktionen. Im Lauf der Geschichte entwickelt sie Mut, Empathie und gewitzten Widerstandsgeist, die das alltägliche Leben in einer annektierten Stadt erfordert. 

Und das in Hamburg so beliebte Franzbrötchen? Genau weiß das niemand, wahrscheinlicher ist es die leckere Kreation eines hugenottischen oder schon vor den Schrecken der Revolution geflüchteten Bäckers in Altona.

Gab es das Haus am Gänsemarkt wirklich?

Das Haus der fiktiven Familie Brestetten ist nach der 1806 erbauten Stadtvilla des Kopenhagener Architekten Hansen gestaltet, damals in direkter Nachbarschaft zu Roth’s alter englischer Apotheke. Heute ragt dort das mit Klinkersteinen verblendete Gebäude der Finanzbehörde auf. 
Während die Brestettens noch einen der Seitenflügel bewohnen dürfen, musste der tatsächliche erste Bewohner sein Haus 1813/14 komplett Festungsgouverneur van Hogendorp überlassen. Als das Gebäude 1919 abgebrochen wurde, erinnerte nach zahlreichen Umgestaltungen nur noch wenig an Haus und Platz vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Die berühmte Apotheke gibt es noch schräg gegenüber ihrem damaligen Standort. 

Gibt es heute noch Spuren der Franzosenzeit in Hamburg?

In Hamburg selbst finden sich kaum noch Spuren. Am deutlichsten auf einem Epitaph in der Hauptkirche St. Petri, dessen Gemälde eine verängstigte Menge in der eisigen Weihnacht 1813 vor der Vertreibung aus der Stadt zeigt. In der Sprache hingegen finden sich einige Bezüge, so zum Beispiel im Gruß tschüss, verballhornt von à Dieu. Oder die Fisimatenten. Der nicht nur in Hamburg übliche Begriff für Sperenzchen/ungehörigen Ärger soll aus dem französischen visitez ma tente entstanden sein (besuchen Sie mein Zelt), der Aufforderung französischer Soldaten an potenzielle einheimische Liebschaften. Und das in Hamburg so beliebte Franzbrötchen? Genau weiß das niemand, wahrscheinlicher ist es die leckere Kreation eines hugenottischen oder schon vor den Schrecken der Revolution geflüchteten Bäckers in Altona. 

Das Haus am Gänsemarkt

In ihrem großen Hamburg-Roman erzählt Petra Oelker vom Schicksal einer hanseatischen Kaufmannsfamilie während der Franzosenzeit.

Hamburg, 1812. Während ihre Eltern Amerika bereisen, lebt Sophia Benedikt bei ihrem Onkel, dem Kaufmann Arnold Brestetten, und seiner Familie. Das Leben im großen Haus am Gänsemarkt ist komfortabel, doch die Zeiten sind schwierig. Kaiser Napoleon überrollt mit seinen Armeen Europa. Als wichtigste Stadt der nun französischen Norddepartements ist Hamburg ebenso Ort rauschender Feste wie großen Elends.

Arnold Brestetten glaubt anfangs noch, sich mit den neuen Gegebenheiten arrangieren zu können. Bis ein französischer Offizier mit seiner Entourage in seinem Haus einquartiert wird und die Geschäfte durch die Kontinentalsperre niedergehen. Als sich in Hamburg Widerstand gegen die Besatzer regt, müssen die Bewohner im Haus am Gänsemarkt sich entscheiden, wo ihre Loyalitäten liegen. Mit weitreichenden Folgen auch für Sophia ...

Ein bewegender, farbenprächtiger und detailliert recherchierter Roman von der Autorin historischer Hamburg-Romane.

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Es gelingt Ihnen, ein sehr detailliertes Bild des damaligen Alltags zu malen. Wie herausfordernd war Ihre Recherche für den Roman? 

Es gibt unendlich viel Literatur und Quellen unterschiedlichster Art zu allen Facetten dieser dramatischen europäischen Epoche. Alles ist schrecklich interessant, von spezifischer Relevanz und fügt sich nach und nach in Zusammenhänge. Ein großes Fass ohne Boden. Ich habe lange gebraucht, um aus dieser Überfülle an politischen wie privaten Gegebenheiten meine Linie, meine Handlungsstränge, mein «Personal» zu destillieren. Das Weglassen, das Verzichten auf so viele Aspekte und Geschichten, exemplarische Lebensläufe und Schicksale weiterer spezifischer Charaktere war vielleicht das Schwierigste. 

Inwiefern lassen sich Bezüge zwischen der damaligen Zeit und dem heutigen weltpolitischen Geschehen herstellen?

Der größere Teil der Arbeit an diesem Buch fand unter dem Eindruck des russischen Überfalls auf die Ukraine statt, dieses kaum zu erfassenden so nahen Krieges mit allen aktuellen, anhaltenden und unabsehbaren Folgen. Aus den täglichen Nachrichten und Bildern krochen ständig Parallelen. Schließlich die entsetzlichen Ereignisse in Israel und Gaza, die stete Eskalation. 
Bei der intensiven Beschäftigung mit Napoleon, seiner Biografie, Karriere und Politik, seinen Kriegs- und Beutezügen (die die fortschrittlichen Gesetzgebungen und Reformen immer wieder vergessen lassen) wird die tiefe Menschenverachtung deutlich, die offensichtlich allen die Alleinherrschaft anstrebenden oder ausübenden Potentaten gemein ist, zugleich die blind vergötternde Verehrung solcher Führer von breiten Teilen der jeweiligen Bevölkerung für diese bis ins Wahnhafte reichenden narzisstischen Strukturen. 
Wie organisieren Menschen unter besonderen Bedingungen ihr Leben, wie verändern sich Beziehungen, Rollen, Haltungen? Verschieben sich Grenzen zwischen Freund und Feind, Gut und Böse …? Und wo entstehen Menschlichkeit, Mut und Hilfsbereitschaft? Davon erzählen Romane, dieser auch.

Petra Oelker

Petra Oelker

Petra Oelker arbeitete als Journalistin und Autorin von Sachbüchern und Biographien. Mit «Tod am Zollhaus» schrieb sie den ersten ihrer erfolgreichen historischen Kriminalromane um die Komödiantin Rosina, zehn weitere folgten. Zu ihren in der Gegenwart angesiedelten Romanen gehören «Der Klosterwald», «Die kleine Madonna» und «Tod auf dem Jakobsweg». Zuletzt begeisterte sie mit «Das klare Sommerlicht des Nordens», «Emmas Reise» sowie dem in Konstantinopel angesiedelten Roman «Die Brücke zwischen den Welten».