Im Gespräch

«Wir leben in einer Welt, die am Rande einer Katastrophe steht»

Peter Frankopan im Interview zu «Zwischen Erde und Himmel. Klima – eine Menschheitsgeschichte»

«Wir leben in einer Welt, die am Rande einer Katastrophe steht.» Peter Frankopan

Herr Frankopan, Sie sagen, dass Sie sich schon als Kind intensiv mit den Bedrohungen unseres Planeten beschäftigt haben. Wie kam es dazu?
Ich habe Nachrichten geschaut. Meine Generation ist mit der Angst vor einem Atomkrieg und einer globalen Katastrophe aufgewachsen. Meine Kindheit war von der Vorstellung geprägt, dass sich der Kalte Krieg in etwas verwandeln würde, das Millionen von Menschen tötet: entweder durch die direkten Auswirkungen von Atomangriffen, durch die nachfolgende Strahlung oder durch den «nuklearen Winter», ausgelöst durch die Abschirmung von Sonnenstrahlen durch die Trümmer, die durch massive Explosionen in den Weltraum geschleudert würden. Unsere Ängste wurden durch den sauren Regen, die Katastrophe von Tschernobyl und die ersten Warnungen über den Amazonas noch verstärkt. Mein ganzer Jahrgang hat das mitgemacht. Ich glaube, das Ende des Kalten Krieges vermittelte ein falsches Gefühl von Sicherheit und trug dazu bei, dass viele den Eindruck hatten, die Welt bewege sich von nun an in die richtige Richtung – im heutigen Rückblick auf Russland, China, Klima, Krankheiten und so weiter war es offensichtlich die falsche.

Ihre Forschungsschwerpunkte als Historiker und Byzantinist sind der Mittelmeerraum, der Nahe Osten, Russland, Persien und Zentralasien. Eine Ihrer letzten großen Veröffentlichungen befasst sich mit den Seidenstraßen, den alten und den neuen. Was haben Sie aus Ihren früheren Studien für Ihr neues Buch mitgenommen?
Erstens, dass man immer weiter lernen und die geographischen und zeitlichen Grenzen verschieben muss. Durch die eigene Spezialisierung schränken sich viele Wissenschaftler:innen selbst ein. Als junger Wissenschaftler wollte ich immer mehr tun, weitere Regionen miteinander verbinden und neue Sprachen lernen. Mit so einem umfassenden Forschungsgebiet wie meinem gab ich Seminare über das Byzantinische Reich von 300 bis 1453 oder das globale Europa, während meine Kolleg:innen einen ganzen Seminarplan mit der Poesie des Ersten Weltkriegs füllten. Ich weiß nicht, wie gut meine Vorlesungen vor fast dreißig Jahren waren, als ich damit anfing – aber sie haben meinen Ehrgeiz geweckt. Wie kann man zum Beispiel Russland verstehen, indem man den Blickwinkel verschiebt, das Land aus dem Süden betrachtet, dem Kaukasus und dem Iran, Zentralasien, China und sogar aus Regionen darüber hinaus? Es braucht Mut, um sich von einer eurozentristischen Perspektive zu befreien. Aber es ist die Pflicht von Historiker:innen, ehrgeizig und mutig zu sein.

Zwischen Erde und Himmel

Was wir erst heute wahrhaft begreifen: Weit mehr als Kriege und Technologien, Religionen und Ideologien beeinflussten und lenkten seit Anbeginn der Zeit die Natur und das Klima die Geschicke der Menschen. Der Globalhistoriker Peter Frankopan spannt einen weiten Bogen, von den frühesten Quellen bis in unsere Gegenwart, und erzählt die Menschheitsgeschichte neu – wobei uns das, was wir heute als Verhängnis erfahren, in vielfältigster Gestalt wiederbegegnet: Klimatische Veränderungen haben den Aufstieg erster Hochkulturen etwa im Industal ermöglicht, aber auch zum Fall großer Reiche wie der Ming-Dynastie in China oder der Maya in Mittelamerika geführt; ein Naturereignis wie der Ausbruch des Vulkans Samalas auf Indonesien hatte im 13. Jahrhundert politische Auswirkungen noch im fernen England; und schon in der Antike beschrieben die Philosophen, wie der Mensch die Natur für immer verändert.

Nach «Licht aus dem Osten» legt Peter Frankopan ein neues, großes Geschichtswerk vor, das Jahrtausende durchmisst und dabei eine ungeheure Aktualität atmet: für ein neues Verständnis nicht nur unserer historischen Entwicklung, sondern auch der Kräfte, die unsere Zukunft bestimmen.

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Historiker:innen erleben derzeit so etwas wie ein Goldenes Zeitalter. Welche Quellen und Belege, die in der Vergangenheit nicht verfügbar waren, können Forscher wie Sie heute in den «neuen Klimaarchiven» finden?
Einige Aufzeichnungen der klimatischen Veränderungen waren vorhanden, wurden aber kaum genutzt – zum Beispiel die Aufzeichnungen des Hafenmeisters von Tallinn, der das Gefrieren und Schmelzen des Meereises jedes Jahr aufzeichnete, über Jahrhunderte hinweg. Aber das Material aus den Bereichen Physik, Biologie, Genomik, Geochemie und Geophysik ist in seiner Menge und natürlich in seiner Genauigkeit vollkommen erstaunlich. Das meiste davon verdankt sich den wissenschaftlichen Fortschritten in den letzten zwei Jahrzehnten. Wir können den CO2-Gehalt, das Ausmaß von Vulkanausbrüchen und die Menge der produzierten Metalle dank der Daten aus Eiskernen von Gletschern auf Grönland, in den Alpen und der Antarktis messen; Baumringe und Kalkablagerungen liefern genaue Auskunft über die Niederschlagsmengen – und vor allem über die Veränderungen der Niederschläge; die Entschlüsselung des phylogenetischen Stammbaums der Pest sagt uns verblüffende neue Dinge darüber, wie sich die Krankheit, die in den 1340er Jahren den Schwarzen Tod verursachte, in den Jahrzehnten davor in vier Zweige aufgespalten hat; Spuren genetischer Veränderungen innerhalb von Bevölkerungen Westafrikas, die bei Sklavenhändlern besonders gefragt waren, ermöglichen uns völlig neue Perspektiven auf die Geschichte. Dies sind die aufregendsten und wichtigsten Entwicklungen für Historiker seit der Erfindung der Schrift. Ich muss mich manchmal kneifen, um zu begreifen, dass ich in dieser aufregenden Zeit lebe und arbeite.

Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge, Sonnenwinde, dramatisches Artensterben in Flora und Fauna, Wasserkriege, Massenmigration, Angst vor nuklearer Verwüstung: Sie spielen viele verschiedene Ereignisse und Konstellationen durch, die die Zukunft des Planeten Erde gefährden. Warum spielen diese Faktoren im aktuellen Klimadiskurs praktisch keine Rolle?
Einige schon. Große Sorge bereitet zum Beispiel die Wasserknappheit, die in Zentralasien wie auch anderswo das größte Sicherheitsproblem darstellt: Nach Angaben der Vereinten Nationen leiden bereits 3,5 Milliarden Menschen mindestens einen Monat im Jahr unter Wasserknappheit. Auch die Massenmigration wird immer wieder als Problem für die Zukunft genannt. Es wird nicht viel darüber nachgedacht, wie sich dies auswirken und wie man sich besser darauf vorbereiten könnte. Übrigens ist dies nicht nur ein Problem in den so genannten Entwicklungsländern: Der «High Plains Aquifer», der das Rückgrat und die Lebensgrundlage der großen landwirtschaftlichen Flächen Nordamerikas bildet, brauchte Dutzende von Millionen Jahren, um sich mit Wasser zu füllen. Er wird im Laufe von zwei Generationen durch die verbrauchten Mengen erschöpft. Wir lassen diese Entwicklungen außen vor, weil sich die Geschichtsschreibung in Europa und im Westen zumeist um große (oder böse) Persönlichkeiten, um Kriege und Dramen dreht, die eine Faszination für Katastrophen und Leiden auslösen.

 

Als Historiker sehe meine Aufgabe darin, den Menschen Informationen zu geben, damit sie die Vergangenheit und die Gegenwart besser verstehen und dann ihre eigenen Entscheidungen für die Zukunft treffen können

Es mag überraschen, dass Sie sich angesichts der ökologischen Zerstörung unserer Lebensräume und der eklatanten Ignoranz von Politikern wie Donald Trump, Ted Cruz oder Liz Truss gegen apokalyptischen Alarmismus aussprechen: Es gibt tatsächlich «Gründe für einen gewissen Optimismus». Können Sie das näher erläutern?
Nun, zum einen möchte ich mich nicht in die lange Liste derer einreihen, die das Ende der Zeit voraussagen, nur um zu erkennen, dass sie sich geirrt haben. Natürlich können Innovation, neue Technologien, staatliche Regulierung und Anreize sowie andere Ansätze dazu beitragen, einige der sehr ernsten Probleme zu lösen, vor denen wir heute stehen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass sie alle gelöst werden können – und auch nicht schnell genug. Ich versuche auch nicht, die Meinung der Menschen zu ändern oder ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Als Historiker sehe meine Aufgabe darin, den Menschen Informationen zu geben, damit sie die Vergangenheit und die Gegenwart besser verstehen und dann ihre eigenen Entscheidungen für die Zukunft treffen können – als Eltern, als Lehrerinnen, als Mitarbeiter von Wohltätigkeitsorganisationen, als politische Entscheidungsträgerinnen oder als Wähler. Wissen ist mächtig, wenn es geteilt wird. Deshalb hoffe ich, dass viele Menschen mein Buch lesen, daraus lernen und hoffentlich auch Freude daran haben werden.

Wendepunkt überschritten? Das Paradies verloren? Was meinen Sie dazu? Helfen oder schaden radikale Formen des Protests, wie sie zunehmend von aktivistischen Gruppen wie «Extinction Rebellion» oder «Letzte Generation» eingesetzt werden, dem Kampf gegen die Klimakatastrophe?
Das müssen Sie sie fragen. Im Vereinigten Königreich haben einige dieser Gruppen ihre Protestformen verändert, da ihr Ziel natürlich nicht darin besteht, Menschen zu verärgern, sondern Veränderungen zu bewirken. Wenn ihre Aktionen nur Ersteres erreichen, sind sie nicht erfolgreich. Das ändert sich also gerade. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich, je länger ich an diesem Buch gearbeitet habe, immer besorgter wurde – was natürlich darauf zurückzuführen ist, dass ich selbst besser informiert bin. Ich wusste nicht, dass in den Ozeanen durchschnittlich 40 Partikel Mikroplastik pro Kubikmeter Meerwasser vorkommen; ich wusste nicht, dass für die Herstellung einer Jeans 7500 Liter Wasser benötigt werden; dass die Luftqualität in einigen asiatischen Städten so schlecht ist, dass sie dem Rauchen von 40 Zigaretten pro Tag entspricht, was sich natürlich auf die Lebenserwartung auswirkt; oder dass Elektroautos aufgrund ihres hohen Gewichts zu einem viel höheren Reifenverschleiß und damit zu mehr Feinstaub in der Luft führen. Wenn man das alles zusammenzählt, sieht es so aus, als ob wir unseren Planeten nicht gerade in einem besseren Zustand an die nächste Generation übergeben. Und das ist beschämend.

 

Ich glaube, 4,5 Milliarden Jahre auf 800 Seiten zu behandeln, ist ziemlich gut!

Ihr Buch «Zwischen Erde und Himmel. Klima – eine Menschheitsgeschichte» beleuchtet die Geschichte von Mensch und Klima über einen Zeitraum von 4,5 Milliarden Jahren. Mehr als 800 Seiten Text, über 3.100 Anmerkungen, eine umfangreiche Bibliographie. Hatten Sie während des Schreibprozesses nie die Befürchtung, dass potenzielle Leser:innen durch die schiere Menge an Material eingeschüchtert werden könnten?
Gute Frage! Die meiste Zeit habe ich mir eher Gedanken über zwei viel schwierigere Fragen gemacht: Erstens, ob es überhaupt möglich ist, ein solches Buch zu schreiben, und zweitens, wie man es am besten machen könnte oder sollte. Es ist wie ein Puzzle mit einer Million Teile. Eine Herausforderung besteht natürlich darin, herauszufinden, was man aufnehmen und was man weglassen sollte. Und ja, ich habe oft an die Leser:innen gedacht und versucht, ein Tempo zu finden, das es ihnen erlaubt, mich auf dieser tiefen Erkundung zu begleiten. Aber ich kann viele Bücher nennen, die länger sind als meines und sich dabei nur auf eine einzige Person, ein einziges Ereignis wie einen Krieg oder sogar nur auf wenige Jahre konzentrieren. Ich glaube, 4,5 Milliarden Jahre auf 800 Seiten zu behandeln, ist ziemlich gut!

Der Rhythmus eines Buches ist etwas, worüber ich viel nachdenke, als Autor wie als Leser. Bei so umfangreichem Material, das wahrscheinlich für die allermeisten Leser:innen neu ist — Länder, Menschen und Ereignisse, die in der Geschichtsschreibung vernachlässigt werden, sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse —, ist es wichtig, den Leser:innen Atempausen zu bieten. Darauf habe ich beim Schreiben immer geachtet.

Ihr Buch ist in gewisser Weise ein Familienprojekt, kann man das so sagen?
Das Schreiben eines Buches ist eine sehr egoistische Aufgabe. Es erfordert viel Durchhaltevermögen und Entschlossenheit; und obwohl ein gutes Buch seinen Leser:innen Vergnügen bereitet, stehen dahinter wie bei einer Symphonie, einem Kunstwerk oder einem wunderbaren Essen harte Arbeit und Zielstrebigkeit. Aber dies ist nicht mein erstes Buch und meine Familie weiß sehr gut, wie das funktioniert. Ich bin allerdings besser geworden als früher. Als ich «Licht aus dem Osten» schrieb, wollte ich keine einzige Mahlzeit, kein Konzert und keine Zeit mit meiner Frau oder meinen Kindern verpassen, also begann ich oft um 22 Uhr und arbeitete bis 3 Uhr morgens, bevor ich um 7 Uhr zum gemeinsamen Frühstück aufstand. Das war zwar anstrengend, aber so standen meine Kinder immer an erster Stelle. Im Laufe der Jahre habe ich jedoch ein paar Tricks gelernt, wie ich ab- und wieder einschalten kann, wenn es nötig ist. Ich hoffe, dass meine Frau und Kinder dem zustimmen — obwohl ich sicher bin, dass sie alle sagen werden, ich sei immer der Letzte Mittags- oder Abendbrottisch, und immer sei eine unfertige Fußnote schuld daran!

Peter Frankopan

Peter Frankopan

Peter Frankopan, geboren 1971, ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Oxford und zählt zu den profiliertesten Historikern unserer Zeit. Sein Buch «Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt» (2016) verkaufte sich weltweit mehr als zwei Millionen Mal und stand auch in Deutschland lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste. 2019 erschien «Die neuen Seidenstraßen», das ebenfalls viel diskutiert und zu einem die Debatte prägenden Bestseller wurde – «ein Weckruf», wie der «Tagesspiegel» schrieb. Peter Frankopan bezieht in der internationalen Presse («New York Times», «Guardian», «China Daily» u.a.) regelmäßig Stellung zu aktuellen weltund geopolitischen Fragen.

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