Die russischen Sicherheitskräfte gehen mit aller Härte gegen Putin-kritische Aktivist:innen vor. Für wie gefährdet halten Sie Kira Jarmysch, die sich ja doppelt exponiert hat: als Sprecherin Alexej Nawalnys (und Augenzeugin des Nowitschok-Mordanschlags) – und als literarische Autorin, die für ein neues, modernes, freies Russland steht?
Kira ist ja zum Glück seit Ende August in Sicherheit. Sie hat sich der bevorstehenden Vollstreckung von anderthalb Jahren Freiheitsbeschränkung durch die Ausreise aus Russland entzogen. Nach sieben Monaten Hausarrest will sie endlich wieder ungehindert arbeiten können. Gegen alle gebliebenen Aktivist:innen geht das Regime weiter mit unglaublicher und zunehmender Härte vor.
Was wissen Sie über die Resonanz in Russland auf Kira Jarmyschs Roman «Dafuq», der im Herbst 2020 in einem regimekritischen Verlag erschien?
Der Verlag CORPUS ist kein «regimekritischer» Verlag. Er ist ein relativ junges Imprint des großen Publikumsverlags AST, der 30 Prozent der russischen Buchproduktion abdeckt. Bei CORPUS erscheinen Günter Grass, Umberto Eco u. v. a. Die Chefin und Mitgründerin von CORPUS, Warwara Gornostajewa, tritt mutig und öffentlich gegen die Unterdrückung von Freiheitsrechten ein. Als Kiras Auftritt auf der Buchmesse non/fiction im März abgesagt wurde, warf sie der Messeleitung Feigheit vor. Die Absage hatte zur Folge, dass das Buch ausverkauft war und nachgedruckt werden musste. Auch die jüngste Anzeige wegen «Propagierung von Propaganda für Drogen, Selbstmord und nichttraditionelle sexuelle Verhaltensweisen unter Minderjährigen» macht den Leser natürlich neugierig und sorgt dafür, dass Kiras Roman im Gespräch bleibt.
Hatten Sie als Übersetzer des Romans einen direkten Kontakt zu ihr?
Leider war sie im Hausarrest mit Internet- und Telefonverbot nicht erreichbar. Alle Zweifelsfragen habe ich mit russischen Freunden in Berlin geklärt.
In ihrer Zelle im Moskauer Arrestgefängnis trifft Anja, die Protagonistin von «Dafuq», auf fünf weibliche Mithäftlinge, die dort zum Teil wegen Lappalien interniert sind. Reichen im Russland von heute tatsächlich Kleindelikte wie das Fahren ohne Führerschein, um für Tage oder Wochen weggesperrt zu werden?
Für Ordnungswidrigkeiten gibt es den «Arrest», den Kira beschreibt. Das Problem ist die absolute Willkür, sobald die Behörden unter diesem Deckmantel politische Proteste bestrafen oder unterdrücken wollen. Teilnehmer der großen Unterstützungsdemos für Nawalny im Januar 2021 wurden wegen Verstoßes gegen Art. 236 russ. StGB, frei übersetzt die Corona-Bestimmungen, verurteilt. Dazu gehörte auch Kira. Dass die Festgenommenen in Polizeiwannen zusammengepfercht wurden und das Regime Massenkonzerte ohne Epidemiemaßnahmen veranstaltete, zeigt die Absurdität dieser Vorwürfe. Schon wegen eines kritischen Facebook-Eintrags kann man heute im Gefängnis landen.
Neben Kira Jarmyschs subversivem Witz und dem lässigen Sound hebt Lena Gorelik an «Dafuq» zweierlei hervor: Der Roman sei «politisch, ohne belehrend sein zu wollen». Und er offenbare «vieles, was man über das heutige Russland weiß und nicht weiß». Was können wir aus «Dafuq» lernen?
Als kritischer Beobachter der Politik in Russland ist man jedes Mal überrascht, im Land selbst so vielen offenen, mutigen, großartigen Menschen zu begegnen. Solche Frauen beschreibt Kira in ihrem Buch. «Dafuq» zeigt diese Menschen ohne Scheuklappen und steht damit in einer ganz großen Tradition der russischen Literatur. Die Wahrheit ist immer potenziell systemsprengend. Deshalb und wegen ihrer Nähe zu Nawalny fürchten die Machthaber diese Autorin.
In einem Interview mit dem Goethe-Institut haben Sie Kriterien dafür genannt, welche Autoren/Werke Sie übersetzen – und welche nicht: «Es muss eine Herausforderung in der Sprache sein. Manchmal spielt auch die Person eine Rolle im Sinne einer kreativen Potenz, von der man sich etwas für die Zukunft erwartet.» Wie war das im Fall von Kira Jarmysch – wo lag bei ihr die Herausforderung?
Eine mutige junge Frau, die sich von Nawalny zu ihrem ersten Roman inspirieren lässt und ihm nach dem Mordanschlag trotz aller Risiken zurück nach Russland folgt, ist Grund genug. Wenn dieser Roman dann noch eine für ein Debüt erstaunliche Reife aufweist und die Erzählerin den Mut zeigt, den eigenen Schwächen selbstanalytisch ins Auge zu blicken – dann kann man nicht widerstehen.
Herr Kühl, Sie haben Slawistik studiert, Sie übersetzen aus dem Polnischen und Russischen, haben an der Gombrowicz-Gesamtausgabe mitgearbeitet, waren von Mitte der neunziger Jahre bis 2021 als Osteuropareferent der Berliner Senatskanzlei tätig und schreiben «ganz nebenher» auch noch selbst Romane (u. a. «Tote Tiere», «Der wahre Sohn», nominiert für den Deutschen Buchpreis, und «Letztes Spiel Berlin»). Sie haben einmal gesagt, Übersetzen sei für Sie «wie die Gymnastik nach dem Schreiben». Ist es nicht kompliziert, vom einen ins andere Metier zu wechseln – heute Morgen übersetze ich drei Stunden, heute Nachmittag nehme ich dann den Faden in meinem Roman wieder auf?
Jede aufregende Autor:in ist wie ein frischer Wind, der das eigene Ich durcheinanderwühlt. Frischluftzufuhr. Sanfter Zwang zu einer anderen Sprache als der eigenen. Ich muss das, was ich in meiner eigenen Literatur ausdrücken will, auch mal zurücksinken lassen, manchmal für viele Monate. Dafür ist das Übersetzen sehr gut.