«Ich wusste schon länger, dass ich diesen Stoff, der mich schon immer umgeben hat, irgendwann verarbeiten möchte.»
Nelio Biedermann über seinen Roman «Lázár»
Lieber Nelio Biedermann, Sie leben am Zürichsee, sind am Wasser aufgewachsen. Macht der See was mit einem?
Sicher weniger als das Meer, das Leben in Zürich ist überhaupt nicht entschleunigt. Aber der See und die Berge an seinem Ende haben etwas unwirklich Schönes. Und im Sommer tummelt sich die ganze Stadt am Seeufer und an der Limmat.
Wo haben Sie «Lázár» geschrieben?
Der erste Satz kam mir in einem schäbigen Hotelzimmer im Süden Portugals, den letzten schrieb ich in einem etwas schöneren Hotelzimmer auf der Isla Holbox in Mexiko. Dazwischen habe ich vor allem zu Hause in Zürich und in der Universitätsbibliothek in Budapest geschrieben.
Wie schafft man es, sich da nicht ablenken zu lassen?
Sich hinzusetzen und weiterzuschreiben, braucht oft Überwindung. Wenn ich aber wieder hineingefunden habe in die Geschichte, kann ich alles andere ziemlich gut ausblenden und vergessen.
Sie haben mit knapp zwanzig Jahren mit «Lázár» einen Roman begonnen, der von der untergehenden alten europäischen Welt vor dem Großen Krieg bis zum blutig niedergeschlagenen Budapester Aufstand 1956 reicht. Wie kommt man als junger Mensch dazu, so weit in die Vergangenheit zu schauen? Gab es einen Auslöser?
Ich wusste schon länger, dass ich diesen Stoff, der mich schon immer umgeben hat, irgendwann verarbeiten möchte. Das hat sich von Anfang an ganz natürlich angefühlt.
Lázár
Ausgezeichnet als Lieblingsbuch der Unabhängigen 2025 | Nominiert für den Schweizer Buchpreis 2025
Alles beginnt, sogar das Ende, als Lajos von Lázár, das blonde Kind mit den wasserblauen Augen, zur Welt kommt. Seinem Vater, dem Baron, wird der Sohn nie geheuer sein, als ob er ...
Lázár
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Alles beginnt, sogar das Ende, als Lajos von Lázár, das blonde Kind mit den wasserblauen Augen, zur Welt kommt. Seinem Vater, dem Baron, wird der Sohn nie geheuer sein, als ob er ...
Die Geschichte der Barone von Lázár ist inspiriert von der Geschichte Ihrer eigenen Familie. Ihre Vorfahren väterlicherseits waren ungarische Barone in der K.-u.-k-Monarchie. Spielte dieses ferne Erbe in Ihrem Leben, in Ihrer Familie eine Rolle, war das noch spürbar?
Sichtbar und spürbar war dieses Erbe vor allem in der Wohnung meiner Großmutter in den Ausläufern Zürichs. Dort hingen immer noch die Familienporträts an den Wänden, dort wurde an Weihnachten mit Silberbesteck gegessen, und das Wohnzimmer war voller dunkler Möbel mit gedrechselten Füßen. Es wurde auch viel von früher erzählt, von der Enteignung, der Flucht, aber auch von den Festen, den geliebten Kindermädchen, der Kindheit im Schloss.
Wie haben Sie für «Lázár» recherchiert?
Ich begann damit, Bücher aus der damaligen Zeit und große Familienromane zu lesen, den «Radetzkymarsch» oder die «Buddenbrooks». Die historischen Begebenheiten habe ich parallel zum Schreiben recherchiert und den Fluss der Geschichte auch daran orientiert. Nach sechs Monaten habe ich dann aber gemerkt, dass mir an manchen Stellen ganz konkretes Wissen fehlte, weshalb ich mit einer Liste voller Fragen meinen Großonkel in Budapest besucht habe. Ich wollte wissen, was sie damals gegessen haben, wie die Familie Geld verdient und ihr Leben bestritten hat.
Wie war es, zum ersten Mal das Schloss zu sehen?
Daran kann ich mich nicht erinnern, denn als ich die Schlösser zum ersten Mal gesehen habe, war ich noch sehr klein. Eines der Schlösser ist heute eine psychiatrische Anstalt; an die Menschen, die dort im Schlossgarten herumwandelten und wirres Zeug sprachen, erinnere ich mich dagegen noch gut.
Gefällt Ihnen etwas an der alten glanzvollen, reichen Welt des Adels gar nicht?
Die aristokratische Welt dieser Zeit war eine Welt voller starrer Normen und gesellschaftlicher Regeln. In meinem Roman wollte ich unter anderem zeigen, wie die Menschen darunter gelitten haben und wie sie dieses System voneinander und von der Welt entfremdet hat.
Die Handlung spielt in einer höchst aufgewühlten Zeit, mit zwei Weltkriegen, mehreren Systemwechseln von der Monarchie über den Faschismus bis zum Kommunismus. Die Geschichte der Familie reicht ja viel weiter zurück. Warum haben Sie diesen historischen Ausschnitt gewählt?
In einem früheren Versuch habe ich im 18. Jahrhundert begonnen, mit den Biedermann-Brüdern, die jüdische Bankiers und Hofjuweliere in Wien waren und die Schlösser in Ungarn kauften. Ich habe dann aber ziemlich schnell gemerkt, dass mir diese Zeit zu fremd ist und ich in ihr nicht vermitteln kann, was ich vermitteln wollte. Das Ende des 19. Jahrhunderts schien mir dagegen der richtige Zeitpunkt zu sein: Eine Epoche ging zu Ende, die Aristokratie verlor an Einfluss und Bedeutung. Und dass das Buch mit der Flucht 1956 enden sollte, war mir schon von Anfang an klar gewesen.
Gibt es den Wald beim Waldschloss noch? Mögen Sie den Wald, sind Sie gern in der Natur?
Das Waldschloss ist eine Collage aus den verschiedenen Schlössern, die meiner Familie gehört haben. Der Wald umgab das kleinere Jagdschloss, um das große Schloss, dem das Waldschloss am meisten gleicht, erstrecken sich endlose Felder. In Zürich beginnt der Wald nicht weit von meinem Haus, was mir gut gefällt, weil er anders als im Buch eine beruhigende Wirkung auf mich hat. Sein Geruch, das Licht, das durch die Baumkronen fällt, die Geräusche, das alles mag ich sehr.
Ungarische Landschaft oder Alpen? Budapest oder Zürich? Wo gefällt es Ihnen besser?
Die Alpen empfinde ich nach ein, zwei Tagen eher als eng. Aber Zürich muss ich Budapest ganz voreingenommen vorziehen. Hier kenne ich alle Straßen, hier sind meine Freunde, meine Familie, mein ganzes Leben.
Haben Sie beim Schreiben besondere Entdeckungen gemacht, und hat Sie etwas bei der Recherche über Ihre Familie besonders bewegt?
Während der Recherche bin ich auf den Benediktiner Edmund Pontiller gestoßen. Er war vor den Nationalsozialisten nach Ungarn geflohen, und meine Familie hatte ihn kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als Schlosskaplan und Hauslehrer bei sich aufgenommen. Ich hatte nie von ihm gehört, er war in keiner der Familiengeschichten vorgekommen. Als ich über ihn und sein Leben las, wusste ich sofort, dass ich ihn als Figur in den Roman einbauen und auch seine Geschichte erzählen wollte. Bewegendes gab es aber im Ganzen so viel, dass ich mich unmöglich auf etwas festlegen kann. Ein besonders schönes und berührendes Detail finde ich die Geschichte meines Großvaters, der auf der Flucht immer wieder seine Zigaretten gegen Essiggurken eingetauscht hat, weil sich meine schwangere Großmutter so nach diesen gesehnt hat.
Wie verhält es sich mit Realität und Fiktion in Ihrem Roman? Wie sind Sie damit umgegangen?
Als meine Großmutter am Ende ihres Lebens im Altersheim und dement war, brachte sie ständig Realität und Fiktion durcheinander. Sie erzählte, dass sie tote Freunde besucht hätte oder dass sie später mit der Tram ins Jagdschloss fahren würde. Diese Überblendung von Fantasie und Wahrheit strebte ich auch während des Schreibens an. Fiktionales und Historisches sollten nicht mehr unterschieden werden können.
Welche Romanfigur steht Ihnen persönlich besonders nahe?
Besonders nahe steht mir Pista, der Junge, der als Kind mit Schatten spricht. Wobei er nicht meine Lieblingsfigur ist, das wäre sein Onkel Imre, der den Verstand verliert.
Sie studieren Germanistik, aber auch Filmwissenschaft. Was fasziniert Sie am Film?
Diese ganz andere Art zu erzählen. Man muss die Dinge zeigen, kann sie nicht ausformulieren, muss über die Oberfläche die Dinge hinter ihr erfahrbar machen. Außerdem vereint der Film so viele verschiedene Medien und Ebenen, dass man zwingend auf das Know-how anderer angewiesen ist.
Haben Sie einen Lieblingsfilm?
Das war ganz lange «Lost in Translation», und ist es wahrscheinlich noch immer. In den letzten Jahren haben mich aber auch «Drive My Car» und «Cure» sehr beeindruckt. Alles Filme, die in Asien spielen, wie mir gerade auffällt.
Falls «Lázár» einmal verfilmt wird, wie wäre der Soundtrack?
Das habe ich mir tatsächlich schon mal überlegt und bin zu keinem Schluss gekommen. Ich glaube, man müsste zwischen Instrumentalmusik oder einem ganz anderen, moderneren Ansatz wie bei Luhrmanns Verfilmung von «The Great Gatsby» entscheiden.
«Lázár» wird in mehr als zwanzig Ländern erscheinen. Welche Gefühle haben Sie da?
Erstmal ist das sehr surreal, und so richtig fassen kann ich es, glaube ich, erst, wenn ich meinen Roman auch im Ausland in Buchläden entdecke. Aber natürlich freue ich mich unglaublich darüber!