Im Gespräch

Ein revolutionärer Akt

In ihrem Debütroman erzählt die Aktivistin, Politikerin, Theatermacherin und Autorin Mirrianne Mahn die Leben von fünf Schwarzen Frauen in Kamerun und Deutschland. Was sie mit diesem feministischen Generationenporträt persönlich verbindet und welche Kraft das Geschichtenerzählen für sie hat, erzählt sie im Hintergrundgespräch zu "Issa".

Mirrianne Mahn im Gespräch

„Berufswunsch: Schriftstellerin.“ Diesen Eintrag in einem Freund*innenbuch aus Schulzeiten hatte Mirrianne Mahn längst vergessen, bis ihre Schwester ihn ihr vor Kurzem zeigte. „Mit 12 Jahren war das ein ferner Kindheitstraum, so wie andere Astronaut*innen werden wollten.“ Jetzt veröffentlicht die Aktivistin, Politikerin und Theatermacherin ihren ersten Roman „Issa“, der bereits für den Debütpreis der lit.cologne nominiert ist. In nur vier Monaten schrieb sie die erste Fassung dieses sehr persönlichen Buchs. „Issas Geschichte ist meine Geschichte und gleichzeitig ist sie fiktional. Nicht alles darin ist wahr, aber alles daran ist echt“, so Mahn. 

 

Deutsch-kamerunische Familiengeschichte


Hochschwanger reist die deutsch-kamerunische Issa auf Drängen ihrer Mutter aus Frankfurt in ihre Heimatstadt Buea, um dort auf einen traditionellen Heiler zu treffen, der mit ihr Initiationsrituale durchführen soll. Die Leser*innen begleiten sie auf ihrem Weg, laufen mit ihr über den Markt ihrer Kindheit, sehen „bunte Stoffe wie Regenbogensplitter“ im Wind wehen, riechen den Duft gebackener Teigbällchen und kommen ihr nah, wenn sie darüber spricht, „gefangen zwischen zu Schwarz in Deutschland und zu Deutsch in Kamerun“ zu sein. Und sie lernen ihre Familiengeschichte kennen, die inmitten der gewaltvollen deutschen Kolonialherrschaft stattfindet. In Kapiteln, die Mahn aus Sicht von Issa, Issas Mutter Ayudele, ihrer Großmutter Namondo, der Urugroßmutter Marijoh und deren Mutter Enanga schreibt und die einen Zeitraum zwischen 1903 und 2006 umfassen.
 

 „Issa“ ist ein sehr persönlicher Roman, den ich schon lange schreiben wollte. Diese Geschichte ist meine Geschichte und gleichzeitig ist sie fiktional. Nicht alles darin ist wahr, aber alles daran ist echt.

Ein feministischer Roman  


Was für Mahn von Anfang klar ist: Die Worte ‚Kolonialismus‘ und ‚Rassismus‘ dürfen nicht vorkommen. „Ich habe gemerkt, wie gut es mir tut, nicht über diese Themen zu sprechen, sondern einfach das Leben dieser fünf Frauen zu erzählen.“ Noch immer gebe es kaum Romane Schwarzer deutscher Autor*innen. Ihnen wird im deutschen Literaturbetrieb oft ein Bildungsauftrag zugeschrieben oder sie werden darauf reduziert, Opfer zu sein. Auch auf Mahn kamen Verlage mit Sachbuch-Anfragen zu. „Ich wollte aber keine Wutschrift über Rassismus verfassen. Ich wollte einen intersektional-feministischen Roman schreiben, der unterhält und berührt.“ „Issa“ sei die Geschichte Schwarzer Frauen und gleichzeitig die Geschichte aller Frauen dieser Welt. Mahn sagt: „Was Patriarchat bedeutet, sieht man an meinen Figuren. Jede von ihnen ist davon betroffen, dass irgendwo auf der Welt ein Mann eine Entscheidung trifft und eine Frau deshalb leidet.“

Fünf Frauen. Fünf Generationen. Ein Schicksal.

Natürlicher Aktivismus  


Das Geschichtenschreiben für sie ein Werkzeug ist, mit dem sie Aufmerksamkeit und Empathie erzeugen kann, merkt Mahn, die 1989 in Buea zur Welt kommt und als Tochter einer Schwarzen Mutter und eines Weißen Vaters in Woppenroth im Hunsrück aufwächst, schon als Kind. In der Grundschule wird ihr gespiegelt, dass ihre Geschichten berühren, ihre deutschen Großeltern geben ihr den Spitznamen BBC, weil sie schon früh in „quasi druckreifen Sätzen spricht.“ Ihr Schreiben ist eng mit ihrem Aktivismus verbunden, der für sie eine natürliche Reaktion auf Ungerechtigkeiten und Überlebensstrategie ist. „Ich war aktivistisch, bevor ich wusste, was das Wort bedeutet“, erzählt Mahn und erinnert sich an einen rassistischen Vorfall zu Schulzeiten. „Mein Musiklehrer behauptete, Jazz sei entstanden, weil Schwarze Sklaven versucht hätten, die Musik von Weißen nachzuahmen. Ich war damals elf und stark geprägt von der Haltung meines Umfelds ‚Weiße Menschen sind toll, Schwarze primitiv‘. Doch dass das eine Lüge war, war mir sofort klar.“  Mahn meldete sich für ein freiwilliges Referat, recherchierte mithilfe der jazzbegeistern Mutter einer Freundin und erzählte die Geschichte des Jazz. „Viel wichtiger als die fünf, die ich bekam, war, dass ich erkannte, wie empowernd es ist, seine Geschichte selbst zu erzählen.“

Was Patriarchat bedeutet, sieht man an meinen Figuren. Jede von ihnen ist davon betroffen, dass irgendwo auf der Welt ein Mann eine Entscheidung trifft und eine Frau deshalb leidet.

Dekoloniale Bildung


Wer Mahn zuhört und „Issa“ als Weiße Person liest, erfährt viel über das Aufwachsen und Leben als Schwarze Person im strukturell- und alltagsrassistischen Deutschland. Etwa wenn Issa im Freund*innenkreis verbalen rassistischen Angriffen ausgesetzt ist und mitlacht, um dazuzugehören oder mit einem „riesigen Stein auf ihrer Brust“ durch deutsche Straßen läuft. Mahn sagt: „Die deutsche Kolonialzeit hat fast in direkter Linie zu den NS-Verbrechen geführt. Solange wir in Deutschland unsere koloniale Vergangenheit nicht aufarbeiten, wird sich auch am Rassismus in diesem Land nichts ändern.“ Dekolonialisierung beginnt für sie damit, dass Weiße Deutsche ihre Verantwortung wahrnehmen und sich zu Kolonialverbrechen bilden.

In ihrer aktivistischen Arbeit und in ihrem Roman geht es ihr nicht um Anklage oder Schuld, sondern darum, mit ihrer Perspektive gehört zu werden. „Eine Perspektive, die in Deutschland nach außen hin schwierig zu vertreten ist“, so Mahn. „Ob als Stadtverordnete der Grünen oder als Aktivistin – in allen Räumen, in denen ich bisher war, wurde ich kritisiert, nicht ernst genommen, zum Schweigen gebracht oder als Opfer dargestellt.“

Issa

«Ich kenne ihre Geschichten so gut, dass ich manchmal glaube, ich hätte sie selbst erlebt.»

Eigentlich will Issa diese Reise gar nicht antreten. Schwanger sitzt sie im Flugzeug nach Douala, angetrieben von ihrer Mutter, die bei der bevorstehenden Geburt um das Leben ihrer Tochter fürchtet. In Kamerun, dem Land ihrer Kindheit, soll sie den heilsamen Weg der Rituale gehen, unter den Adleraugen ihrer Omas. Doch so einfach ist das alles gar nicht, wenn man in Frankfurt zu schwarz und in Buea zu deutsch ist. Der Besuch wird für Issa eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und der Gewissheit, dass sowohl Traumata als auch der unbedingte Liebes- und Lebenswille vererbbar sind. 

Kunstvoll verwebt Mirrianne Mahn die Schicksale von fünf Frauen miteinander, deren Leben mehr als ein Jahrhundert auseinanderliegen und doch über die Linien kolonialer Ausbeutung und Streben nach Selbstbestimmung verbunden sind. Ein empowerndes, ein kraftvolles, ein eindringliches Debüt.

«Beeindruckend, wie liebevoll und tastend Mirrianne Mahn ihre Figuren zeichnet.» Daniela Dröscher

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Befreiender Schreibprozess


Das Schreiben ihres Romans hat für sie viel verändert: „Es war sehr heilsam und befreiend, meine Geschichte zu erzählen, ohne mich rechtfertigen zu müssen – einfach, weil ich es will, nicht weil es jemand erwartet.“  Ihr Buch soll auch eine Antwort sein für diejenigen, die immer wieder fragen: Wo kommst du her? „Ich wünsche mir, dass all jene genau das wissen möchten, worüber ich in „Issa“ schreibe.“ Die eigene Geschichte – erst sich selbst und dann der Welt – zu erzählen ist für Mirrianne Mahn ein revolutionärer Akt, an den sie auch eine Hoffnung knüpft: „Das Weiße Menschen, die sich noch nie mit Kolonialismus beschäftigt haben, mein Buch lesen und danach nicht mehr sagen ‚Ich war im Urlaub in Afrika‘, sondern afrikanische Länder endlich beim Namen nennen. Das wäre ein Anfang.“ 

 

Text: Esther Sambale

Mirrianne Mahn wurde 1989 in Buea/Kamerun geboren und wuchs in einem kleinen Dorf im Hunsrück auf. Mittlerweile lebt sie in Frankfurt, wo sie sich als Aktivistin und Theatermacherin gegen Diskriminierung und Rassismus engagiert. Sie ist Referentin für Diversitätsentwicklung und Antidiskriminierung und seit 2021 Stadtverordnete in Frankfurt am Main. Für ihr politisches Engagement wurde sie vom FOCUS Magazin zu einer der 100 Frauen des Jahres 2021 gewählt.

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