Im Gespräch

Michael Maar im Gespräch über sein neues Buch "Das violette Hündchen"

«Michael Maar ist der brillanteste Hermeneutiker des Details unter den deutschen Literaturkritikern und Literaturhistorikern.» Ursula März, Deutschlandradio

Michael Maar im Gespräch über sein neues Buch

«Caress the detail, the divine detail», schrieb Vladimir Nabokov: «Umschmeichle das Detail, das göttliche Detail.» Darin steckt die Erkenntnis, dass Details in der Literatur viel mehr sein können als nur schmückendes Beiwerk. Warum sind sie so wichtig − geradezu göttlich?

Wie es zu dem bekannten Satz „Gott steckt im Detail“ kommen konnte, erklärt ein Kapitelchen meines Buchs – es geht da ursprünglich um einen Begriff des mittelalterlichen Theologen Don Scotus, bald doctor subtilis genannt, der sogenannten Haecceitas. Aber ganz säkular – Daniel Kehlmann schrieb  in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung: „Details sind nicht nur nicht egal, sie sind alles.“ Und er hat ja recht. Es gibt keine große Literatur ohne markante Details. Woran erinnern wir uns, wenn wir uns an vergangene Lektüren erinnern? Weniger an die Handlungsverläufe als an bestimmte Details. Was wissen wir noch von Flauberts Madame Bovary, könnten wir die Geschichte ihres Niedergangs in allen Phasen nachzeichnen? Nein. Aber wir vergessen nicht die stundenlange Kutschenfahrt, die sie mit ihrem Liebhaber ziellos durch Rouen führt. Bei zugezogenen Vorhängen.

 

Es gibt in Romanen Details, die sprechend, verräterisch, ja sogar handlungsentscheidend sind. Aber es gibt auch die ganz unscheinbaren, beiläufigen Details − eines davon, das «violette Hündchen» aus Tolstois «Krieg und Frieden», gab Ihrem Buch den Titel. Was macht gerade diese Details, wenn sie denn gut gewählt sind, so reizvoll, so besonders? 

Gerade die nicht funktionalen sind die reizvollsten. Würde sich etwas an Tolstois großem Epochengemälde ändern, spränge da nicht auf drei Beinen jenes violette Hündchen herum und heiterte den traurigen Zug der gefangenen russischen Soldaten auf? Rein gar nichts, was die Handlung betrifft. Und doch blieb mir nach der Lektüre des Tausendseiters genau dieses Hündchen im Gedächtnis. Es steht – oder tänzelt – für das schöne Überflüssige in der Weltliteratur. 

Details sind, in einem anderen Bild, die duftenden Strauchrosen am Wegrand des Plots. Wobei es natürlich auch noch die anderen gibt, die von Ihnen erwähnten verräterischen. Über die Frage der wahren Autorschaft der Werke Shakespeares entscheiden womöglich  zwei seltene Adjektive. In Bram Stokers Dracula öffnet sich durch ein Verb die Falltür zu dunkleren Subtexten. In Virginia Woolfs Mrs. Dalloway weiß die Heldin genau ein Detail zuviel. Und ein Cluster von immergleichen Details verdickt sich im Lebenswerk Thomas Manns zu einer veritablen Blutspur

Man kommt aus diesem herrlichen Buch wie verwandelt hervor. Und man wünscht sich, Michael Maar begleite einen künftig immer beim eigenen Lesen, damit man auch sehen kann, was nur er sieht, die Schönheit der Details spürt wie er, ihre nur scheinbare Beiläufigkeit, die in Wahrheit ins Herz der Geschichten führt. Welch ein Literaturverführer! Florian Illies

Ihr Buch ist ein großer Erkundungsgang durch die Weltliteratur, von Shakespeare über Tolstoi und Franz Kafka bis zu Virginia Woolf und Salman Rushdie. Dennoch, man merkt schnell: Es ging Ihnen nicht darum, nach Schulbuchmanier den literarischen Kanon abzuarbeiten. Wie sind Sie zu Ihrer Auswahl an Autoren und Werken gekommen, wovon haben Sie sich dabei leiten lassen? 

Fast ausschließlich von meinen persönlichen Vorlieben. Die sich nach meiner Stilstudie „Die Schlange im Wolfspelz“, die sich auf deutschsprachige Literatur beschränken mußte, erfreulich ins Internationale auffächern durften. Details zeichnen sich dadurch aus, daß ich sie mit einem Bleistiftkreuzchen am Seitenrand markiere. „Das violette Hündchen“ ist ein Gang durch meine Bibliothek auf der Suche nach diesen Kreuzchen. Wobei ich für dieses Buch, an dem ich im Grunde seit dreißig Jahren schreibe, auch vieles zum ersten Mal gelesen und entdeckt habe.

Details, in denen sich das große Ganze spiegelt: ein Leitmotiv, das sich durch das Buch hindurchzieht. Ist so gesehen die Literatur wiederum ein Abbild des Lebens, in dem es ebenso darum geht, stets auch auf Kleinigkeiten zu achten? Und ist das Lesen womöglich eine Schule der Aufmerksamkeit?

Wie im Lesen, so im Leben: Woran erinnern wir uns? Nicht an lange Phasenverläufe, sondern an Details. Das Leben besteht aus nichts anderem. Ganze Jahre können in einem Grauschleier an uns vorbeiziehen, aber ein einziger Satz kann sich mit Saugnäpfen festsetzen. Auch das Unwichtigste kann Jahrzehnte später immer wieder hochploppen. Mein Bamberger Literaturprofessor erwähnte vor vierzig Jahren, seine damals noch in der DDR lebende Freundin hätte gern Autoaufkleber aus dem Westen. Die DDR gibt es nicht mehr, der Professor ist längst tot, warum fällt mir dieses Detail immer wieder ein? – Zur Schule der Aufmerksamkeit: Bitte keine Schulen. Vergnügen will ich bereiten, und wenn nebenbei der Blick fürs Detail geschärft würde – euer Schade soll es nicht sein.

by Gunter Glücklich - www.guntergluecklich.com
© by Gunter Glücklich - www.guntergluecklich.com
Michael Maar

Michael Maar , geboren 1960, ist Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker. Bekannt wurde er durch «Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg» (1995), für das er den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhielt. 2002 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2008 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2010 bekam er den Heinrich-Mann-Preis verliehen. Das Buch «Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur» (2020) stand lange auf der  Spiegel -Bestsellerliste. Zuletzt erschienen in Neuausgaben «Das Blaubartzimmer» und der Roman «Die Betrogenen». Michael Maar hat zwei Kinder und lebt in Berlin.

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