Im Gespräch

Warum kehren wir immer wieder zu unseren Wurzeln zurück? Jörg Hartmann im Interview zu seinem Buch «Der Lärm des Lebens»

Jörg Hartmanns hinreißendes Buch über die Kraft der Familie und der Erinnerung

Der Schauspieler und Autor Jörg Hartmann
© Silvia Medina

In Zeitungsinterviews und Talkshows hat man immer wieder etwas über Sie erfahren können. Über Ihre Familie, den Weg aus einem Arbeiterhaushalt im Ruhrgebiet zu Theater und Film. Was hat Sie bewogen, endlich dieses Buch zu schreiben, Ihr Buch?

Der Anlass war der Tod meines Vaters. In der Trauer konnte ich den Gedanken nur schwer ertragen, dass mit ihm seine Geschichte und die seiner Eltern eines Tages völlig verschwinden würden, wenn ich sie nicht aufschreibe. Es war also ein Akt des Festhaltens und ja, auch ein Versuch der Verarbeitung. Zudem eine Art Selbstverortung, in einem Alter, in dem man häufiger in den Rückspiegel zu schauen beginnt. Und in einer Zeit, die so anders geworden ist, dass ich sie ins Verhältnis setzen wollte zum Vergangenen. Ich fragte mich: Woher komme ich? Wie haben Familie und Herkunft mich geprägt? 

Am Theater spielen Sie im Ensemble und haben einen Regisseur, der Ihnen reinfunkt. Beim Schreiben sitzen Sie allein vor dem leeren Blatt – ist das ein Gefühl der Freiheit?

Das weiße Blatt Papier kann einem Angst einjagen, mitunter verzweifelt man, will alles in die Tonne kloppen. Und trotzdem, ich hatte mich schon lange nicht mehr kreativ so frei gefühlt wie beim Schreiben. Keiner, der dir wie beim Drehbuchschreiben reinredet, der dir sagt: Zu teuer – streich das Motiv! Zu viele Schauspieler – auch streichen! Mein eigener Herr sein zu können, alles alleine zu erschaffen – das war herrlich.

Das weiße Blatt Papier kann einem Angst einjagen. Und trotzdem, ich habe mich schon lange nicht mehr so frei gefühlt wie beim Schreiben.

Wie haben Ihre Eltern Ihre Karriere gesehen? Dass es keine Handballkarriere sein würde, muss Ihrem Vater Hubert («Hubsi»), selber eine Herdecker Handballlegende, früh schon klar gewesen sein. Waren Ihre Eltern irritiert, weil sie die Berufswahl ihres Jungen leicht aus der Art geschlagen fanden – oder war Ihr Weg ins Künstlerische von Beginn an vorgezeichnet? 

Nein, irritiert waren sie nicht, denn die Berufswahl kam nicht ganz überraschend. Ich habe schon als kleines Kind wahnsinnig viel gezeichnet, wollte später Maler werden und machte auf der Schule bei der Theater-AG mit. Mein Wunsch kurz vor dem Abi war es allerdings, Biologie zu studieren, Ökologe zu werden, die Welt vor dem ökologischen Kollaps zu bewahren. Tja, hätte ich das doch bloß gemacht! Aber nach der Premiere in einem Laientheater meiner Heimatstadt war mir endgültig klar, dass ich auf die Schauspielschule wollte. Sollten meine Eltern wegen meines klaren Entschlusses damals besorgt gewesen sein, so haben sie es mich nie spüren lassen, im Gegenteil, sie haben mir stets das Gefühl vermittelt: «Junge, du machst dat schonn.» Nie hätten sie von mir eine Banklehre oder Ähnliches erwartet. Und mein Vater war ja selbst eine Art Klassenclown, völlig ungeeignet für einen hundertprozentig seriösen Beruf.

Was haben Ihnen Ihre Eltern, die sechzig Jahre verheiratet waren, für Ihr Leben mitgegeben? 

Mit dem Herzen durchs Leben zu gehen. «Der erste Gedanke ist immer der beste», hat mein Vater stets gesagt und damit das Bauchgefühl gemeint. «Wenn du etwas gibst, kriegst du auch was zurück», war ein anderes Credo. Und ich hoffe, ich bin trotz meines Berufs auf dem Teppich geblieben. «Auf den Putz zu hauen», das kam (und kommt) im Ruhrpott und bei uns zu Hause nicht so gut an. 

Das Leben, so mein Eindruck als Kind, schien in erster Linie ein großer Spaß zu sein.

Auch wenn Sie lange in Berlin lebten (und heute in Potsdam): Sie seien ein «Kind der Kleinstadt», schreiben Sie. «Herdecke schmiegte sich an mich wie eine wärmende Decke.» Wie viel Herdecke steckt heute noch in Ihnen?

Obwohl ich große Städte mag und sie gern bereise, kann ich die Herkunft aus einer Kleinstadt nicht leugnen. Bis heute zieht es mich immer raus, in die Natur, zumindest in ihre Nähe. Egal ob in Stuttgart, Mannheim oder im kleinen Meiningen, ich wohnte immer am Stadtrand, im Falle Meiningens sogar in einem Dorf. Ständig mittendrin im Trubel Berlins zu sein, das wäre mir zu viel, da brauche ich den Rückzug. Das Gefühl von einer «wärmenden Decke» kam aber vor allem daher, dass meine Eltern in Herdecke stark vernetzt waren, ich als Kind so die Wahrnehmung hatte, Teil des Ganzen und dadurch aufgehoben und behütet zu sein. Der Humor spielte auch eine große Rolle. Im ganzen «Hartmann-Clan» wurde viel herumgeblödelt. Nicht nur mein Vater hat seine Späße getrieben mit der Verballhornung der Gebärdensprache, sondern auch seine Brüder (auch wenn er es von allen am weitesten trieb). Das Leben, so mein Eindruck als Kind, schien in erster Linie ein großer Spaß zu sein.

Ihre Großeltern väterlicherseits waren gehörlos.

Ja, und bis heute konnte ich nicht wirklich herausfinden, wie sie die Nazizeit überstanden haben. Mein Vater hat mir immer erzählt, dass sie «bei Adolf auf der Liste» waren. Ob das Zwangssterilisation oder gar Schlimmeres bedeutet hätte, wären die Nazis noch länger an der Macht gewesen, das wusste mein Vater wohl selbst nicht. Tatsache ist: Da die Sprache eine geringere Rolle spielte als Gefühle und Intuition, sind mein Vater und seine Brüder mit ganz besonderen Antennen aufgewachsen, die es ihnen ermöglichten, den Charakter der Menschen intuitiv richtig zu erfassen. Und dem Spott der anderen sind alle vier mit dieser albernen Art der Traumabewältigung begegnet, der Gebärdensprachenverballhornung (so zumindest meine küchenpsychologische Theorie). 

Ich habe Ihr Buch als eine Form des Innehaltens, der Selbstvergewisserung gelesen. Wenn «Veränderung durch Loslassen» Ihr Glücksrezept ist – wohin könnte es Sie demnächst treiben?

Ja, es ist natürlich ein Blick zurück, aber eben auch eine Reflexion über das eigene Dasein, über die Welt und die Zeit, in der wir leben. Ich hoffe, noch mehr Gelassenheit zu finden, noch mehr Wachheit dem Leben und den Menschen gegenüber. Und ja, ich hoffe, der Strom, der mich durchs Leben treibt, führt mich ganz bald auch zu einem zweiten Buch. 

Der Lärm des Lebens

Bestseller

In «Der Lärm des Lebens» erzählt Jörg Hartmann auf hinreißende Weise seine Geschichte und die seiner Eltern und Großeltern. Es ist eine Liebeserklärung an die Kraft der Familie – und an den Ruhrpott. Ob es um die Situation seiner gehörlosen Großeltern im Nationalsozialismus geht, die Lebensklugheit seiner Mutter, die für kurze Zeit eine Pommesbude betrieb, die Demenzerkrankung seines Vaters, der Dreher und leidenschaftlicher Handballer war, die vielen skurrilen Erlebnisse in der Großfamilie oder um Schlüsselbegegnungen, die er als Schauspieler hatte – immer hält Hartmann die Balance zwischen Tragik und Komik.
Er hat dabei einen kraftvollen Erzählton – persönlich, berührend, humorvoll. Und fragt: Warum kehren wir immer wieder zu unseren Wurzeln zurück? Es geht Hartmann darum, den Kreislauf des Lebens zu fassen: Eltern und Kinder, Anfang und Ende, Aufbruch und Ankunft, Werden und Vergehen – eben alles, was zum geliebten Lärm des Lebens gehört. Ein weises, geschichtenpralles Buch über Herkunft und Heimat – und den Wunsch, sich davon zu lösen und in die Welt zu ziehen. Eine Éducation sentimentale und, wie nebenbei, eine Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik.

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Jörg Hartmann

Jörg Hartmann

Jörg Hartmann gehört zu den bedeutendsten deutschen Charakterdarstellern. 1969 geboren, wuchs er in Herdecke, im Ruhrpott, auf. Nach seiner Schauspielausbildung und verschiedenen Theaterengagements wurde er 1999 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Fernsehproduktionen wie «Weissensee» oder der Dortmund-Tatort, in dem er Kommissar Faber spielt, machten ihn einem breiten Publikum bekannt; im Kino war er etwa in «Wilde Maus» oder zuletzt in «Sonne und Beton» zu sehen. Jörg Hartmann wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Grimme-Preis. Für den Tatort «Du bleibst hier» (2023) schrieb er das Drehbuch. Er hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in Potsdam.