«Die Details» handelt von Begegnungen, die unser Leben verändern. Werden wir durch die Begegnung mit anderen zu denen, die wir sind?
Ich glaube zum einen, dass wir ohne einander nicht besonders viel sind, und zum anderen, dass wir vielleicht mehr miteinander verbunden sind, als uns bewusst ist. Wir entstehen als Menschen, wenn wir Kontakte knüpfen und uns in unserem Gegenüber spiegeln, wir lassen uns definieren und definieren andere, und wenn wir gehen, nehmen wir etwas voneinander mit. Für meine Hauptfigur geht es darum, eine offene Haltung anderen Menschen gegenüber einzunehmen, d.h. sie wirklich als reale, dreidimensionale Wesen anzunehmen. Sie wird als Erzählerin des Romans nur in den Lücken zwischen den Erzählungen über vier Figuren sichtbar. Wenn man eine Geschichte über jemand anderen erzählt, erzählt man also zwangsläufig auch eine Geschichte über sich selbst.
«Es ist ein Fest. Aber auch ein Kampf.»
«Wir leben so viele Leben in unserem Leben, kleinere Leben mit Menschen, die kommen und gehen, Freundinnen und Freunden, die verschwinden, Kindern, die groß werden, und ich weiß nie, welches meiner Leben den eigentlichen Rahmen bildet.» Ia Genberg im Interview zu ihrem neuen Roman «Die Details».
Die Details
Ein Roman über die Freundschaften unseres Lebens, queere Liebe und die Beziehungen, die uns prägen - von Ia Genberg, Augustpreisträgerin und eine der markantesten Stimmen der skandinavischen Gegenwartsliteratur.
Was wären wir ohne einander? Welche Begegnungen machen uns zu denen, die wir sind? Und was bleibt, wenn wir einander verlieren?
Eine Frau liegt mit hohem Fieber im Bett und denkt an vier Menschen zurück, die ihr Leben geprägt haben: Johanna,mit der sie eine stürmische Beziehung hatte. Niki, die irgendwann spurlos verschwand. Alejandro, eine leidenschaftliche Liebe ohne Zukunft. Und Birgitte, ihre Mutter, die ein schmerzhaftes Geheimnis mit sich trug. Ein funkelnder Roman über die Details, die unser Leben ausmachen.
Ausgezeichnet mit dem renomierten schwedischen Literaturpreis Augustpris und nominiert für den International Booker Prize 2024.
«Dieser bewegende Roman entfaltet sich in vier Einzelporträts, die zusammen ein scharfes, ergreifendes Bild der Hauptfigur ergeben. Ia Genberg verwischt die Grenzen zwischen Autofiktion und Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und zwischen dem Ich und dem Anderen. Genau die wundersame Art von Roman, der mit unseren persönlichen Erinnerungen verschmilzt und Teil von uns wird.» Hernan Díaz
Die vier prägenden Personen im Leben der Ich-Erzählerin werden am Ende alle verschwinden. Ist «Die Details» also vor allem ein Roman über Verlusterfahrung?
Ja, es ist ein Roman über Verlust, aber auch darüber, dass wir einander wahrscheinlich nie ganz verlieren werden. Es sollten vier abgeschlossene Porträts sein, die sich literarisch miteinander verbinden lassen. Also habe ich mich entschieden, die Geschichte von Beziehungen zu erzählen, die zu Ende gehen, weil die Ich-Erzählerin auf die eine oder andere Weise verlassen wird. Es gibt im Roman allerdings auch eine Beziehung, die zu Sally, die sich durch das ganze Buch zieht. Sie bildet eine Art Kontrast zu den anderen Beziehungen, in denen es stärker um Leidenschaft, Leben und Tod geht.
Der leicht melancholische Ton des Buches war sofort präsent, und es wurde mir wichtig, ihn ganz genau zu treffen.
Dein Roman beginnt mit einer Erinnerung, die Proust'sche Madeleine ist hier Paul Austers «Stadt aus Glas». Als die Ich-Erzählerin mit Fieber im Bett liegt, wird der Erinnerungsprozess in Gang gesetzt. Wie bist Du darauf gekommen?
Ich habe mich zu Beginn der Pandemie, Ostern 2020, mit Covid angesteckt und hatte mehrere Wochen lang Fieber. Fieber macht einen etwas benommen, man ist anfällig für Impulse und hat keine klare Vorstellung von Zeit und Raum. Irgendwann ging ich zum Bücherregal, um etwas zu lesen, statt weiter Serien zu schauen, schlug auf gut Glück ein Buch auf und entdeckte eine Widmung darin. Und in meinem fiebrigen Zustand wurde ich quasi in die Zeit hineingesogen, die ich mit dieser Person, die mir die Widmung schrieb, vor vielen Jahren verbracht hatte, fand mich an diesem Vorort wieder, in unserer Wohnung, unseren Gesprächen. Ich erinnerte mich an alles ganz unmittelbar, wie an einen vertrauten, lange nicht wahrgenommenen Duft. Aus diesem Erlebnis heraus setzte ich mich sofort auf die Bettkante und begann, das erste Porträt zu schreiben, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was daraus werden würde. Der leicht melancholische Ton des Buches war sofort präsent, und es wurde mir wichtig, ihn ganz genau zu treffen.
«Die Details» zeichnet nicht nur die leicht nostalgische Stimmung aus, sondern auch Deine sehr präzise Sprache. Jedes Wort scheint mit Bedacht gewählt. Kannst du etwas über die Arbeit an dem Buch erzählen? Wie bist Du vorgegangen?
Ich mochte den Ton, den ich ganz am Anfang gefunden hatte, und um ihn wiederzufinden, musste ich mich jeden Tag wieder von Neuem auf die Suche nach ihm begeben. Also habe ich jeden Tag alles von Anfang an neu geschrieben (überarbeitet, gestrichen, umgeschrieben), weil ich sonst nicht den richtigen Ton finden und das Kapitel weiterschreiben konnte. An manchen Tagen habe ich nur gestrichen. Ich konnte einen Tag mit 30 Seiten beginnen, und am Ende des Tages waren es nur noch 25. Mein Ziel war, dass kein Wort fehl am Platz sein sollte, dass es sich völlig organisch, kompakt und präzise anfühlte. Ich setzte mich mit Ohrstöpseln und Noise-Cancelling-Kopfhörern hin und las mir den Text beim Schreiben laut vor. Ständig alles neu zu schreiben und jeden Tag bei Null anzufangen, war superhart und ist keine Methode, die ich irgendjemandem empfehlen würde. Aber für mich war es die einzige Möglichkeit, dieses Buch zu schreiben.
Noch vor zwanzig Jahren drehte sich in Romanen mit queeren Figuren alles um ihre Sexualität und wie lustig, anstrengend oder schwierig ihr Leben dadurch war.
Die Ich-Erzählerin ist bisexuell, das wird im Roman aber nicht weiter thematisiert, sie ist es einfach. Mir gefällt diese Selbstverständlichkeit. War es das, was Du erreichen wolltest, einen Roman über Queerness zu schreiben, der eigentlich gar nicht davon handelt, sondern vom Leben selbst?
Ja, ich bin sehr froh, dass die Bisexualität der Ich-Erzählerin kein großes Thema ist, wenn über das Buch gesprochen wird. Für mich ist das ein Zeichen dafür, wie weit wir schon gekommen sind. Noch vor zwanzig Jahren drehte sich in Romanen mit queeren Figuren alles um ihre Sexualität und wie lustig, anstrengend oder schwierig ihr Leben dadurch war. Heute ist die sexuelle Identität nur noch ein Merkmal unter anderen und für sich genommen völlig uninteressant. Diese "Unsichtbarkeit" ist ein Fortschritt, den wir allen Aktivist*innen aus der Vergangenheit zu verdanken haben und allen Autor*innen, die trotz starkem Gegenwind queere Romane geschrieben haben. Und der Fortschritt ist natürlich nicht selbstverständlich, wir können nichts als gegeben hinnehmen. Es ist ein Fest. Aber auch ein Kampf.
In Schweden ist dein Buch ein großer Erfolg, Du hast den Augustpreis, den wichtigsten Literaturpreis des Landes damit gewonnen. Aber bereits vorher gab es Unmengen an positiven Rezensionen, und die Leser:innen lieben «Die Details». Hast Du das vorausgeahnt? Und was hörst Du von Deinen Leser:innen, was schätzen sie so an dem Roman?
Weder ich noch mein Verleger hatten eine Ahnung, dass der Roman von so vielen Menschen gelesen werden würde. Die erste Auflage betrug 1.500 Exemplare. Der Erfolg eines Buches ist sehr stark vom Zufall abhängig. Es hätte genauso gut ein paar gute Kritiken bekommen und dann in Vergessenheit geraten können. Dann wäre ich auch ganz zufrieden gewesen. Aber es ist wirklich sehr gut gelaufen, ich glaube, es hat einen Nerv in der heutigen Welt getroffen, in der es so viel um Beziehungen und menschliche Begegnungen geht. Viele Leser*innen erkennen Personen aus ihrem eigenen Leben wieder («Ich kannte auch eine Niki» usw.), und sie erzählen mir, dass mein Buch sie zu Gesprächen über Erinnerungen an verschiedene Menschen aus ihrer Vergangenheit angeregt hat. Ich habe den Eindruck, dass die Leser*innen, wenn sie über das Buch diskutieren, schnell dazu übergehen, über sich selbst, über ihre Erinnerungen, über Menschen, die sie getroffen haben, zu sprechen. Wenn ich das von Leser:innen höre, habe ich das Gefühl, dass das Buch sein Ziel erreicht hat.