Im Gespräch: Hélène Gestern
Wie beeinflussen Familiengeheimnisse unsere Identität über Generationen hinweg? Hélène Gestern, Autorin von „Rückkehr nach Saint-Malo“, spricht im Interview über die Macht des Schweigens, die Last der Vergangenheit und die Freiheit, das eigene Erbe anzunehmen.
Wie prägen verborgene Familiengeheimnisse unsere Identität – über Generationen hinweg? Diese Frage steht zentral über „Rückkehr nach Saint-Malo“. Was hat Sie persönlich dazu inspiriert? Welche Herausforderungen gab es bei der Darstellung der komplexen Familiengeschichte?
Familiengeheimnisse an sich sind oft sehr banal, jedenfalls sind es in jeder Familie dieselben: Man verschweigt einen Selbstmord, ein uneheliches Kind, ein Verbrechen oder Vergehen eines Vorfahren, einen Gefängnisaufenthalt, ein beschämendes politisches Engagement... Kurz gesagt: Die traurigen oder schrecklichen Dinge des Lebens. Die Frage ist deshalb eher, warum die Zeugen schweigen (soziale oder persönliche Scham?). Mir ist klar geworden, dass es einen edlen Grund gibt, den man oft vergisst: Sie schweigen, um ihre Kinder zu schützen, weil sie, manchmal zu Unrecht, manchmal zu Recht, der Meinung sind, dass nicht jede Wahrheit ausgesprochen werden darf. Ich bin nicht wirklich einverstanden mit der weit verbreiteten Haltung unserer Zeit, die Familiengeheimnisse verteufelt und verlangt, dass Kinder alles über das Leben ihrer Vorfahren wissen. Ihre psychischen Wunden könnten ohne dieses Wissen nicht geheilt werden, diese Überzeugung ist sogar die Säule der Psychogenealogie. Sicher, manchmal ist das wahr. Aber manchmal ist es auch schlimmer, die Wahrheit zu kennen: Worte heilen nicht alles, und manche Geständnisse sind einfach zu schwer zu ertragen. Was ich in meinen Büchern darzustellen versuche, ist unser freier Wille, unsere Fähigkeit, unser Erbe anzunehmen und andere Teile davon abzulehnen, wenn sie vergiftet sind. Ich lasse dies eine der Figuren im Roman sagen: „Die Verfehlungen der Toten gehen uns nichts an. Es wäre ein Fehler, dafür die Lebenden zu opfern.“
Eine große Familiengeschichte über drei Generationen zu schreiben, ist in der Tat eine echte Herausforderung! Eine Dynastie besteht aus vielen Figuren und vielen Verbindungen. Man muss also versuchen, jedem seine Persönlichkeit, seine eigenen Züge zu geben, um ihn erkennbar zu machen, aber auch die Beziehungen erfinden, die die Menschen miteinander verbinden, ohne in Stereotypen zu verfallen. Eine weitere Herausforderung ist die glaubwürdige Einbettung der Figuren in ihre Zeit: Die Art und Weise, wie Menschen sprechen, sich kleiden und sich verhalten, ist je nach Epoche unterschiedlich. Ein liebevoller Vater, der beispielsweise darauf besteht, jeden Tag eine Stunde mit seinen noch kleinen Kindern zu verbringen, wie die Figur des Octave, ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art gesellschaftliche Anomalie, und das muss im Roman zum Ausdruck kommen.
Rückkehr nach St. Malo
Ein Bretagne-Roman, eine fesselnde Familiengeschichte, ein kluger und ausgefeilter Pageturner, den man nie vergisst!
Nach dem Tod seines Vaters verlässt Yann Paris, um sich in Saint-Malo in dem Haus seiner Kindheit niederzulassen. Erinnerungen an unbeschwerte Sommer an der Seite ...
Rückkehr nach St. Malo
Eine Familie, deren Glück und Unglück das Meer ist. Eine verbotene Insel voller Geheimnisse. Ein Mann auf der Suche nach sich selbst.
Nach dem Tod seines Vaters beschließt Yann de Kérambrun, seine Stelle als Geschichtsprofessor in Paris aufzugeben und nach Saint-Malo ...
Wie haben Sie die Figur des Yann de Kérambrun entwickelt und welche Aspekte seiner Persönlichkeit waren Ihnen besonders wichtig?
In meiner Vorstellung ist Yann eine Art Alter Ego. Ein sehr melancholischer Mann, der in einem schwierigen Lebensabschnitt angekommen ist, in den Fünfzigern, wo man mehr an die verbleibende Zeit denken muss als an die Fehler der Vergangenheit. Er ist ein sanfter, freundlicher Mann, der sehr an seinem Sohn hängt, aber aufgrund seiner Erziehung große Schwierigkeiten hat, seine Gefühle zu zeigen. Ich habe nicht versucht, ihn als typisch männlich darzustellen, genauso wenig wie als weiblich. Ich wollte einfach nur ein sensibles, menschliches Wesen zeigen, das von den aufeinanderfolgenden Schicksalsschlägen, die ihm widerfahren sind, getroffen ist und versucht, die Beziehung zu seinem Sohn Paul zu retten. Das Studium der Geschichte, das sein Beruf ist, ist auch sein Rettungsanker, denn es gibt ihm wieder einen Lebenssinn. Durch die Geschichte versucht er, eine Gegenwart zu verstehen, die ihn oft überfordert, in einer aus den Fugen geratenen Welt, die ihn beunruhigt... Der Roman zeigt ihn im Kampf gegen seine Melancholie, wie er dank der Natur langsam wieder ins Leben zurückfindet. In seiner Beziehung zur Protagonistin des Romans, Rebecca, wollte ich auch seine Zweifel, sein Zögern und seine Fähigkeit, die Distanz zu respektieren, die sie zwischen ihnen aufbaut, zum Ausdruck bringen. Yann ist kein Verführer, er sucht keine Beziehung um jeden Preis. Er ist ein müder Mann, der keine Ehrungen und keine Eroberung mehr erwartet: Er braucht vor allem die Natur, die Stille und Zeit. Im Gegenzug ist er bereit, der Frau, die er getroffen hat, viel zu geben.
Ein zentrales Thema ist die maritime Geschichte der Familie Kérambrun, insbesondere die Entwicklung der Reederei Kérambrun & Söhne und die technologischen Innovationen im Schiffbau zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie haben Sie diese Aspekte recherchiert und in den Roman integriert? Gab es besondere historische Entwicklungen, die Sie fasziniert haben?
Ich hatte von Anfang an vor, einen Roman über eine Dynastie zu schreiben, der sich zwischen Saint-Malo, Cézembre und Jersey abspielen sollte. Und ich wollte ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts ansiedeln, in einer Zeit, in der der Mensch die Beherrschung mächtiger Produktionstechnologien erlangte und die Industrialisierung beginnt. Die großen Industriekapitäne sahen im technischen Fortschritt einen Schlüssel zum Wohlstand, zur Verringerung der Armut und sogar zur Erleichterung der Arbeit, eine Waffe für die Eroberung der Elemente... Hundertzwanzig Jahre später können wir die verheerenden Auswirkungen dieser Utopie ermessen, aber damals faszinierte sie. Man denke nur an die Weltausstellungen und die „Fée Électricité” (die Elektrizitätsfee)... Ich habe einiges über den Seeverkehr gelesen, vor allem während des Lockdowns, da eine Reise in die Bretagne nicht möglich war. Wenn man sich ein wenig informiert, versteht man, wie sehr die „Arbeiter des Meeres”, wie Victor Hugo sie nannte, eine Welt für sich bilden. Der inzwischen verstorbene Historiker Alain Roman hat in Form von Alben spannende Zeitungsartikel aus dieser Zeit gesammelt und veröffentlicht, in denen sowohl Schiffbrüche als auch Stellenangebote, das Leben im Hafen oder die Preise für Austern dokumentiert sind...
Ich habe mich auch sehr für die Entwicklung des Badetourismus im späten 19. Jahrhundert interessiert, der insbesondere durch architektonische Forschungen und Fotoarchive gut dokumentiert ist. Der Fortschritt der Eisenbahn brachte eine wohlhabende Pariser Kundschaft an die Küsten der Normandie und der Bretagne, wo große Hotels und Kasinos entstanden... Die Postkarte, eine zu dieser Zeit blühende Kunstform, ist eine außergewöhnliche dokumentarische Fundgrube, und ich habe in Archiven und auf Flohmärkten eine ganze Reihe davon erstanden. Ich hatte auch Gelegenheit, die Memoiren des Vaters einer Freundin zu lesen, eines Chemikers bei Rhône-Poulenc, der eine Industriereise in die Vereinigten Staaten unternommen hatte, was mich zu der Episode in Amerika inspirierte.
Für viele ist die Bretagne ein Ort voller Mythen, Geschichte und Sehnsucht. Welche Bedeutung hat diese Region für Sie persönlich und wie spiegelt sich das in Ihrem Roman wider?
Ich bin nicht unbedingt empfänglich für die mythische Seite der Bretagne: die Feen, die Artus-Sagen, den Wald von Brocéliande usw. Allerdings bin ich seit über zwanzig Jahren fasziniert von der Natur und der Nähe zum Meer. Das Meer prägt das Leben der Bewohner, die im Rhythmus der Gezeiten leben und sich seiner Gefahren und Unwägbarkeiten stellen müssen. Die Natur dort ist von einer fast unbeschreiblichen Schönheit, verändert sich stündlich, minütlich. Viele Teile der Küste sind unberührt, ja sogar wild, kaum vom Menschen und der Urbanisierung betroffen, was nicht auf viele andere Orte an der Atlantikküste zutrifft, die zum Teil völlig verunstaltet ist. Die Bucht von Saint-Malo ist der Ort, an dem Land und Meer auf einer Art riesiger natürlicher Theaterbühne von vier Kilometern Länge aufeinandertreffen, und das macht sie so ungeheuer einzigartig und anziehend. Deshalb habe ich meiner Hauptfigur Yann de Kérambrun meine Faszination für diesen Küstenabschnitt verliehen: Es ist wie ein riesiger Farbfernseher, eine lebensgroße Bühne, deren Programm von den Gezeiten und dem sich sekündlich änderndem Licht bestimmt wird (das Meer steigt dort um 14 Meter). Und man wird nie müde, es anzuschauen.
Welche Rolle spielt die Insel Cézembre während des Zweiten Weltkriegs in Ihrem Roman und warum haben Sie sich entschieden, dieses historische Ereignis anzusprechen?
Die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs auf Cézembre verkörpern in extremer Weise das symbolische Schicksal der Insel. Cézembre war Kloster, Lazarett, Garnisonsort, belgische Strafkolonie und schließlich militärisches Bollwerk der Bucht von Saint-Malo: ein Ort, an den Menschen geschickt wurden, der Isolation und extremen Bedingungen ausgesetzt. Während des Zweiten Weltkriegs sollte die Garnison im Sinne der Organisation Todt, die die Bauwerke des Atlantikwalls errichtet hatte, den Zugang zur Bucht von Saint-Malo verteidigen, insbesondere vor Schiffen aus England. Die riesigen Kanonen (die den Franzosen im Ersten Weltkrieg abgenommen worden waren!) konnten Geschosse bis zu 18 km weit schießen. Leider geriet die deutsche Garnison, die durch italienische Soldaten verstärkt worden war, von dem Moment an, als die alliierten Truppen 1944 ihren Vormarsch begannen, in eine tödliche Falle, umzingelt aus der Luft und vom Meer. Ich stellte mir einen jungen Soldaten vor, der voller Glauben und Hoffnung auf eine neue Zukunft, berauscht von den Versprechungen des Nationalsozialismus, in den Krieg gezogen war und dessen brutale Desillusionierung, als er sich inmitten des Krieges und seiner blinden Gewalt wiederfand. Die wunderschöne Insel Cézembre wird für die Soldaten innerhalb weniger Tage zu einer üblen und tödlichen Falle: Sie müssen ihr Leben für einen hochmütigen Befehl opfern, von einer Person, die nicht akzeptieren kann, dass der Krieg verloren ist.
Was können Sie uns über Ihre historischen Recherchen zu Saint-Malo und der Rolle von Cézembre während des Zweiten Weltkriegs erzählen? Waren Sie schon einmal auf der Insel Cézembre? Wie ist die Insel heute und welche Atmosphäre hat sie auf Sie ausgeübt? Gab es während Ihrer Recherchen überraschende Entdeckungen, die Sie besonders beeindruckt oder beeinflusst haben?
Es ist nicht ganz einfach, zuverlässige Quellen über Cézembre zu finden, das im Grunde nur eine kleine Episode unter Tausenden anderen im Zweiten Weltkrieg mit seinen tragischen Folgen war. Eines der nützlichsten Werke war das Buch einer in Frankreich lebenden deutschen Journalistin, Vera Kornicker, die wie durch ein Wunder die Zeugenaussagen von zwei Soldaten der deutschen Garnison sammeln konnte, die die Bombardierung von Cézembre überlebt hatten. Es ist kein wissenschaftliches Buch, aber es ist seriös und gut recherchiert.
Ich selbst war mehrmals auf Cézembre: mit dem „offiziellen” Shuttle und dank eines Freundes, der mich mit dem Boot dorthin brachte und für mich einen Rundflug über die Insel organisierte. Als ich zum ersten Mal diesen Ort betrat, auf den ich so lange gewartet hatte, war ich zutiefst erschüttert. Zunächst einmal, weil die Natur sich mit einer wunderschönen Kraft die Insel zurückerobert hat, die 1944 nur noch ein elender Haufen Kieselsteine war, verbrannt durch Napalm. Das Licht dort ist von unvergleichlicher Schönheit, nicht ganz dasselbe wie in der Bucht... Dann, weil man bei jedem Schritt auf Überreste des Krieges stößt: Eisenbahnschienen, Bunker, Geschützstellungen... Diejenigen, die die Insel nach der Räumung eines Großteils der Bomben wieder für die Öffentlichkeit zugänglich machten, haben bemerkenswerte Arbeit geleistet und darauf geachtet, diese Überreste sichtbar zu lassen, als wollten sie an das erinnern, was hier geschehen ist. Man befindet sich auf einem winzigen Felsbrocken und spürt dennoch die Last der Geschichte, vermischt mit der Pracht der Natur. Man muss wirklich dorthin fahren, sich in die Lage dieser Mönche, dieser Häftlinge, dieser Soldaten versetzen, die in einer grandiosen Kulisse, die sie gefangen hält, eingeschlossen sind, um das zu verstehen.
Gab es besondere literarische Einflüsse, die Ihr Schreiben geprägt haben?
Ein großer Einfluss, zumindest für diesen Roman, ist Thomas Mann. Ich war dreiundzwanzig, als ich „Buddenbrooks“ zum ersten Mal las, und habe es dann noch fünfmal auf Französisch und einmal auf Deutsch gelesen – da ich die Übersetzung von Geneviève Bianquis quasi auswendig konnte! Für mich ist es eine perfekte Erzählkonstruktion, verbunden mit einer Weltsicht von außerordentlicher Kraft, wenn man bedenkt, dass der Autor bei der Veröffentlichung erst 26 Jahre alt war. Ein außergewöhnliches Porträt der Familie, der Bourgeoisie, der Art und Weise, wie die Zeit Generationen prägt, wie materielle Werte vor dem Bedürfnis nach geistigem Reichtum zurücktreten, der für Thomas Mann die wahre Größe ausmacht. Ein weiterer Einfluss ist eine meiner Freundinnen, die inzwischen verstorben ist, Anne-Marie Garat, eine außergewöhnliche Romanautorin und Stilistin, von der ich jede Zeile ihres Schreibens bewundere. Und natürlich Victor Hugo, der nie weit weg ist... Die Poesie des späten 19. und 20. Jahrhunderts, die ich viel gelesen habe, hat ebenfalls eine Rolle gespielt. Die Poesie ist eine lexikalische Schule mit höchsten Ansprüchen. Um das Licht, den Wind und die Stimmungen zu beschreiben, schöpft man aus dem Reichtum, den man sich durch den Kontakt mit der Lyrik angeeignet hat, ihrer einzigartigen Kunst, Wörter zu kombinieren. Im Grunde gibt sie einem die Mittel, die Komplexität der Welt zu übersetzen und sie wiederherzustellen, hoffentlich mit der Kraft des Offensichtlichen.