Im Gespräch

Gefühlt immer auf Diät – und ständig ein schlechtes Gewissen?

Dr. Kathrin Vergin erklärt, wie wir lernen können, unser Essverhalten besser zu verstehen und zu steuern

Kathrin Vergin
© Markus Hertrich

Wir essen aus Stress, aus Kummer, um uns zu beruhigen – oft, ohne wirklich Hunger zu verspüren. Die Folge: Wir nehmen zu, entwickeln im schlimmsten Fall eine Essstörung. Dabei folgen wir oft den immer gleichen Mustern. Dr. Kathrin Vergin hat ein Ernährungstagebuch entwickelt, das sich auf «emotionales Essen» fokussiert und in dem nicht nur die Lebensmittel notiert werden, sondern auch Routinen, Stresslevel, Gefühle. All das wird täglich reflektiert – 12 Wochen lang. Dadurch kann das eigene Essverhalten verstanden und ganz ohne Verbote eine nachhaltige Veränderung angestoßen werden.


DAS INTERVIEW

 

Sie schreiben im Emotional Eating-Tagebuch, dass Sie als Kind recht eigenwillige Essvorlieben und -abneigungen hatten. Wenn Sie mit dem Wissen von heute auf sich als junges Mädchen schauen: Wie sehr verstehen Sie, was damals bei Ihnen aus der Balance geraten war?
Mit dem Wissen von heute sehe ich alles klar. Hätte ich damals so reflektiert auf mich geschaut wie heute, hätte ich mir viele Aufs und Abs in meiner Gewichtshistorie ersparen können. Wenn wir jung sind, sehen wir oftmals nicht weit genug, was uns ggf. in der Zukunft stresst. Je jünger wir sind, desto mehr leben wir im Hier und Jetzt. Erst später merken wir, dass wir, gerade wenn es um unsere Essgewohnheiten geht, viel früher hätten aktiv werden sollen. Aber es ist nie zu spät, damit anzufangen. Der erste Schritt ist das grundlegende Verständnis für sich. 

 

Wie kann Ihr Ernährungstagebuch helfen, aus dem Teufelskreis von Heißhungerattacken, Übergewicht, Diäten und chronisch schlechtem Gewissen auszubrechen?
Das Buch beginnt mit einfachen Dingen, nämlich sich bewusst zu werden, wann und wie viel man jeden Tag isst, ohne dabei auch wirklich Hunger zu haben. Allein das sensibilisiert schon. In weiteren Rückblicken pro Woche lernt man dann, das tägliche Essverhalten in erste Muster einzuteilen. Wer seine Muster kennt, kann diese auch mit Emotionen verbinden und daran dann im Alltag genauer ansetzen. So lerne ich meine Bedürfnisse kennen und finde heraus, was hinter meinem Essverhalten steht, denn dies sind meistens Emotionen, die mich und mein Essverhalten steuern. Das Buch schafft wieder Nähe zu mir selbst. Wir lernen, wieder auf unseren Körper zu hören – und damit lernen wir wieder, intuitiv zu essen und zu genießen. Ohne Stress und Kalorienzählen.

 

Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Drei-Monats-Programm des Tagebuchs: Ist das ein guter Zeitraum, um die innere Logik des eigenen Ess(fehl)verhaltens zu begreifen – und zu verändern? 
Ja, eindeutig. Die meisten meiner Patienten bleiben nur knapp 3 Monate im Coaching. In meiner Arbeit, aus der auch das Buch entstanden ist, hat sich das als guter Zeitraum erwiesen, um an seinem Essverhalten zu arbeiten. 4 Wochen reichen nur für die erste Basis, die weiteren 4 Wochen dienen der Testphase in der Umsetzung und die letzten 4 Wochen der Etablierung im Alltag. Das ist ein optimaler Zeitraum, um neue Strukturen zu schaffen und sich entspannter auf das Thema Essen einzulassen.
Wir treffen im Schnitt pro Tag fast 200 Entscheidungen, die sich mit dem Thema Essen befassen. Diese Entscheidungen neu zu programmieren, dauert einfach. Dies ist genauso mit den Essensmustern, die ich seit der Kindheit in mir trage. In einem Alter zwischen 40 und 50 Jahren haben wir bis zu 35.000 Mahlzeiten gegessen. Dass wir dann bestimmte Dinge im Essverhalten aus Automatismus tun, scheint dann völlig klar. Somit brauchen wir Zeit, um solche Muster zu lösen. Mit diesem Buch kann man über 3 Monate schon sehr weit kommen. 

 

Was am Emotional Eating-Ansatz so überzeugend ist: Wer nicht weiß, weshalb man all das isst, was man isst, der kann mit keiner Diät glücklich werden. Wie wichtig ist es, sich über das Modul «Tagebuch» hinaus professionelle Hilfe zu suchen?
Das kann hilfreich sein, gerade wenn ich meine Bedürfnisse nicht richtig eigenständig benennen kann. Nur wer seine Bedürfnisse kennt, versteht auch, warum er diese mit Essen zu befriedigen versucht. In meiner Arbeit tue ich genau das. Ich analysiere gemeinsam mit meinen Teilnehmer*innen die Tagebücher und entwickle daraus Verbindungen zu ihren eigentlichen Bedürfnissen. Damit kommen wir an das persönliche Ziel, denn man lernt, seine Bedürfnisse auch ohne Essen zu befriedigen. Dazu braucht es manchmal zusätzliche Hilfe von außen. Das Buch bietet dabei die perfekte Basis, denn die Ergebnisse und Bestimmung der eigenen Muster über 3 Monate ebnet den Weg in die direkte Umsetzbarkeit.

 

Sagen wir, ich habe den Zusammenhang zwischen meiner Ernährung und dahinterstehenden Trigger-Emotionen begriffen. Wie rigoros muss ich meine Lust auf bestimmte Nahrungs- und Genussmittel beschneiden?
Bitte gar nicht. Ich kenne es selbst: Essen wird in gesund und ungesund oder in erlaubt oder nicht erlaubt eingeteilt. Mein Ansatz spart sich diesen ganzen Kraftakt. Kein Kalorienzählen, keine Verbote und auch kein ständiges Abwiegen der Lebensmittel. Alles ist erlaubt. Die Menge macht das Problem. Daran arbeitet man. Wer weniger emotional essen muss, kann Dinge wieder genießen lernen und geht entspannter mit Essen und dessen Verfügbarkeit um. Je mehr ich mir verbiete, desto mehr will ich es haben. Wenn nichts mehr verboten ist, ist es nicht mehr so attraktiv. Je entspannter das Thema Essen für uns wird, desto weniger brauchen wir es «ständig». Trotzdem schaue ich immer auch auf die Qualität des Essens. Das gehört zu einer Analyse immer dazu. Dabei geht es aber nicht immer ums Gewicht, sondern auch darum, die Gesundheit nicht zu vernachlässigen. Wir lernen mit diesem Buch also nicht nur mehr über uns selbst, sondern auch, wie wir die Qualität unserer Nahrung steigern können und damit gesünder werden. Das gibt uns mehr Power und damit mehr Energie, um dauerhaft motiviert zu bleiben.

 

Wie viel Disziplin müssen Sie aufbringen, um all das auf die Reihe zu kriegen: als Ernährungswissenschaftlerin, Psychotherapeutin und Food-Coach zu arbeiten – und «nebenher» als Triathletin und Ultraathletin zu trainieren?
Es wäre vermessen zu sagen, dass es für all das keine Disziplin braucht, aber ich würde es eher unter guter Organisation verbuchen. Das, was mich limitiert, ist, dass manchmal die Tage für alles, was ich vorhabe, zu kurz sind. Aber ich liebe, was ich tue, und so muss ich mich einfach nur gut organisieren.

Apropos Triathlon und Iron(wo)man Hawaii 2020: Nicht nur einem Jan Frodeno und einer Anne Haug hat Corona die komplette Saison verhagelt. Wie sind Sie, sportlich betrachtet, durch die vergangenen Monate gekommen?
Ganz ehrlich, es ist nicht viel passiert. Der Trainingsfokus hat sich massiv verschoben. Es gab nur einen Triathlon für mich dieses Jahr, und aus meinem geplanten 100-km-Ultramarathon wurde kurzerhand ein 50-km-Lauf. Aber das ist okay. Ich trainiere weniger pro Woche, halte mich sportlich fit und warte auf das, was im neuen Jahr kommt. Es war einfach eine völlig andere Saison – und das ist okay so. 2021 setze ich mir wieder neue Ziele und greife wieder an, sofern die Chancen dafür da sind.