Im Gespräch

«Schuldgefühle hatte und habe ich keine»

Olga Raue, CIA-Agentin im Kalten Krieg: Die Entdeckung eines der größten deutschen Spionagefälle der Nachkriegszeit

Spionagefall der Nachkriegszeit
© privat

«Ein seltener Glücksfall»

 

Dass es diese Geschichte überhaupt gibt, nennt der Wissenschaftler und Publizist Stefan Appelius einen «seltenen Glücksfall». Zu unwahrscheinlich ist der Weg bis zu dem Punkt, an dem die abenteuerliche Geschichte der «Raue-Gruppe» klarere Konturen annahm. Appelius hatte an einem Spätsommertag 2010 während eines «Tags der offenen Tür» im früheren Stasi-Gefängnis Bautzen Xing-Hu Kuo getroffen. Kuo hatte vor seiner Verhaftung als Übersetzer für die chinesische Botschaft in Ostberlin gearbeitet. Während seiner Inhaftierung in der Haftanstalt Hohenschönhausen lernte er Gerd und Olga Raue kennen (Heinz Raue als Kopf der Gruppe war nach dem Geheimprozess in die berüchtigte Sonderhaftanstalt Bautzen II verbracht worden).


Von Gerd Raue war nicht nur Xing-Hu Kuo beeindruckt. Über ihn, den «Zahnarzt von Hohenschönhausen», urteilte die ehemalige Gefangene Katharina Leendertse so: «Ich war einfach überwältigt … Jetzt wusste ich, ich bin nicht allein. Ich fühlte mich nicht mehr so verloren … Seine Körpersprache verriet Furchtlosigkeit, Souveränität, aber auch Demut.» Xing-Hu Kuo ist den beiden Raue-Brüdern nach seinem Freikauf in die Bundesrepublik noch einmal begegnet – in den 70er Jahren in Westberlin.


Bei dieser Begegnung in Bautzen 2010 hatte Appelius Witterung aufgenommen. Was war wohl aus Heinz, Gerd und Olga geworden? Als er das Geburtsdatum von Heinz Raue in Erfahrung brachte, konnte er endlich Akteneinsicht beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR nehmen. Appelius stellte einen Forschungsantrag. «Schon sehr bald wurde allerdings klar, dass die dort gewonnenen Erkenntnisse nicht sehr weit führen würden. Ich erfuhr nämlich von einer Vereinbarung der Bundesregierung mit der Regierung der USA, dass selbst die Decknamen früherer in Deutschland tätiger CIA-Offiziere bis heute nicht genannt werden dürfen. (…) Von diesem Zeitpunkt an war mir klar, dass ich Augenzeugen der Geschichte brauchte. Menschen, die sich an die damaligen Ereignisse erinnerten und bereit waren, darüber zu sprechen. Heinz und Gerd waren tot. Es blieb mir also nur Olga Raue. Sie schien aber wie vom Erdboden verschluckt zu sein …»


«Aber man findet immer etwas, wenn man nur hartnäckig genug sucht …» Und so fand Appelius schließlich die Frau, die als Einzige über all das zu sprechen bereit und in der Lage war: Olga Raue, «die Spionin». Im Herbst 2014 gelang es ihm, die Telefonnummer der damals fast 90 Jahre alten Dame ausfindig zu machen, die nach dem Tod ihres späteren Lebenspartners in einem Ort in Norddeutschland lebte. Wie gesagt, «ein seltener Glücksfall» …

Stefan Appelius: das Interview

«In meinem Buch geht es um Olga Raue, eine junge Frau aus Ostdeutschland, die in den 50er Jahren für die CIA spioniert hat. In diesem Buch stecken fünf Jahre Arbeit. Ich habe mir Hunderttausende Seiten Aktenmaterial in der Stasiunterlagen-Behörde vorlegen lassen. Zu meinen Ergebnissen wäre ich niemals gekommen ohne die Hilfe von Olga, die sich noch an viele entscheidende Dinge erinnert hat.


Es geht aber hier aber noch um mehr: Ich habe herausgefunden, wie die CIA damals in Westberlin gearbeitet hat. Die Geheimdienste haben einen sehr großen Einfluss auf unsere Geschichte. Wir alle glauben irgendwie zu wissen, wie zum Beispiel die CIA gearbeitet hat, weil wir bestimmte Fernsehserien kennen oder Agentenromane. Ich kann Ihnen sagen: Das können Sie vergessen! Die Wahrheit sah ganz anders aus.


Was ich bei meinen Recherchen festgestellt habe, ist, dass die Amerikaner und speziell die CIA in Westberlin in einer wahnsinnig professionellen Weise gearbeitet haben. Die Staatssicherheit der DDR hatte überhaupt keine Chance, gleichwertig zu agieren. Das wirkte fast schon Mitleid erregend, wie Topfschlagen, was die östliche Spionage da versucht hat, um die Amerikaner im Zaum zu halten. Es ist mir zu meiner eigenen Überraschung gelungen herauszufinden, wie die Amerikaner damals in Westberlin getarnt waren, aber auch, mit welchen Leuten sie hier vor Ort gewesen sind. Nachdem ich die erste Hauptfigur identifiziert hatte, habe ich auf einmal immens viel über die wahre Identität dieser Geheimdienstler erfahren, dass ich allein das schon für eine unglaublich spannende Seite dieses Buches halte.


Wir befinden uns in Berlin, in der geteilten Stadt, Anfang der 50er Jahre. Drei junge Leute aus der DDR haben sich aus politischen Gründen entschieden, gegen die Russen und das SED-Regime zu arbeiten: Olga, ihr Freund Heinz und ihr Schwager Gerd. Olga, die mit der Raue-Familie sehr eng verbunden war, hatte sich nach Kriegsende zunächst in Gerd verliebt, einen gutaussehenden jungen Mann, die große Liebe ihres Lebens. Später hat sie aber Heinz, seinen Bruder, geheiratet.


Die Amerikaner haben damals jede Menge junger Leute rekrutiert und als Spione in der DDR eingesetzt. Bei Olga, Heinz und Gerd aber ist die Sache ganz anders gelaufen. Sie spielten sozusagen in der Champions League der Spionage. Ihnen ist es damals gelungen, in der Nähe von Moskau eine Wasserstoffbombenfabrik zu entdecken, eine Fabrik mit unterirdischen Produktionsstätten, mit Eisenbahnrampen und Abschussanlagen. Hinzukam, dass Gerd in die Führungsetage der SED aufstieg, eine erstaunliche Karriere – er stieg auf bis ins Beratergremiums des SED-Politbüros; am Ende hat er sogar Stasioffiziere ausgehorcht. Gerd Raue war ein hochgebildeter, charismatischer und charmanter Mann, gutaussehend – ein echter Draufgänger, ungeheuer mutig.


Heinz Raue war das Gehirn und der Motor dieser Gruppe – ohne ihn hätte es sie nicht gegeben. Er hat alles koordiniert, er war der Mann, der wirklich mit dem moralischen Anspruch aus der Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückgekehrt war, etwas gegen die Russen tun zu müssen. Er war es, der sowohl Gerd als auch Olga in diese Aktivitäten hineingebracht hat.


Olga ist eine ungeheuer faszinierende, beeindruckende Frau. Sehr gut aussehend, sehr selbstbewusst, emanzipiert in den 50er Jahren, wie das kein Mensch erwartet hätte. Mich hat vor allem ihre unglaublich positive Energie beeindruckt. Olga, die inzwischen fast 90 Jahre alt ist und in Norddeutschland lebt, hat über diese Geschichte sehr, sehr lange geschwiegen.


Alles begann damit, dass Olga in den ersten Jahren als eine Art Kurierin Nachrichten aus der DDR in den Westen transportiert hat. Anfangs erzählte ihr Heinz nicht einmal, was sie da tat; sie hatte wirklich keine Ahnung, dass sie Agentin war. Nachdem sie das ein paar Jahre gemacht hatte, wurde ein amerikanischer Offizier auf sie aufmerksam. Dieser Mann, der sich Raymond nannte, verabredete ein Treffen mit Olga und Heinz. Raymond (alias «Hänschen») war der Chef der CIA in Westberlin. Er hatte die Akten verschiedenster Agenten gelesen und so erfahren, dass Olga kurz davor war, in Moskau ein Medizinstudium aufzunehmen. Das machte ihn hellhörig. Was er sah: Hier war eine langjährige, erfahrene Kurierin, die bald in Moskau sein würde – und an Moskau waren die Amerikaner wahnsinnig interessiert. Sein Plan war, Olga dazu zu bringen, dort für die CIA tätig zu werden. Er bot ihr an, sie für diese Tätigkeit auszubilden, sie zu schulen. Das hat Olga Raymond – auch er ein ungemein charmanter Mann – nicht abschlagen können. Mehr noch, die beiden verliebten sich ineinander, eine echte Romanze begann.


Olga hatte in Moskau eine Vielzahl von Aufgaben. Man muss sich das so vorstellen, dass die Amerikaner keine Ahnung hatten, was sich in Moskau wirklich zutrug. Sie hatten dort kaum Agenten; die Leute in ihrer Botschaft wurden derart intensiv beäugt, dass sie sich im Stadtgebiet so gut wie nie bewegen konnten, ohne dass gleich ein ganzes Rudel sowjetischer Beschatter an ihnen hing. Olga sollte herausfinden, wie die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung aussah; in welcher Weise sich die Russen auf Luftangriffe vorbereiteten; sie die Schutzräume im Moskauer U-Bahn-System organisiert waren. Die Autokennzeichen von Militärfahrzeugen, Funkantennen an Gebäuden, Wasser- und Bodenproben – um dies und vieles mehr hatte sich Olga zu kümmern.


All das geschah, ohne dass die Amerikaner Olga jemals sagten, warum und wieso. Kein amerikanischer Spion hat jemals erfahren, warum er all das machen musste. Olga hat immer wieder gezweifelt. Nachdem sie eine ganze Weile in Moskau gelebt und die Privilegien einer Studierenden der Medizinischen Fakultät genossen hatte, wuchsen ihre Zweifel. Und die Amerikaner merkten das natürlich. Speziell «Hänschen» bemühte sich, Olga klarzumachen, dass am Ende die Menschen im Westen die Gewinner sein würden. Um ihr das zu beweisen, nahm er sie und Gerd und Heinz auf Reisen etwa in die Schweiz oder nach Italien mit. Dort ließ er sie ein Leben kennenlernen, das ein DDR-Bürger auf keinen Fall je hätte führen können.


Olga war sich keines Risikos bewusst. Sie hatte insbesondere in Moskau Gefühl, ungefährdet zu sein. Dass sie damals ausgerechnet von ihrer besten Freundin beschattet wurde, wusste sie nicht. Olga wurde dann von zwei Agentinnen des Ostens enttarnt: von einer jungen Russin namens Nina. Und von Martha, ihrer Freundin, mit der sie ein Zimmer im Studentenwohnheim teilte. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich sie traf, hatte sie keine Ahnung, dass Martha die Verräterin war.


Olga, Heinz und Gerd wurden dann in einem Geheimprozess 1960 in Frankfurt an der Oder zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Gerd und Heinz erhielten lebenslänglich, Olga nur 15 Jahre. Warum «nur» 15 Jahre? Weil sie mit der Staatssicherheit kooperierte, und zwar, weil «Hänschen» ihr dazu geraten hatte: Wenn sie dich schnappen, musst du auspacken. Es ist deine einzige Chance, der einzige Weg, da wieder rauszukommen. Eigentlich hat ihr «Hänschen» den Weg zeigt.


Sie hat «Hänschen» niemals wiedergesehen; vergessen hat er sie nicht. Ein paar Monate nach ihrer Ankunft in Westdeutschland erschien ein Mr. Johnson bei ihr. Sie traf sich mit ihm in einem Bahnhofsrestaurant, wo er ihr einen Umschlag übergab – mit 80.000 DM darin. Das war ihr Agentenlohn von den Amerikanern.»

Die Spionin

Die Entdeckung eines der größten deutschen Spionagefälle der Nachkriegszeit und ein spannendes Stück Zeitgeschichte – so packend wie ein Agententhriller.
Die frühen Jahren des Kalten Krieges in Berlin: Olga Raue, ihr Mann und ihr Schwager spionieren für die CIA, zuerst in der DDR, später in Moskau. Als eine Freundin sie verrät, wird Olga inhaftiert. Sechs Jahre später kauft die Bundesrepublik Olga frei, 1977 darf sie die DDR verlassen. Olga schweigt über ihre Mission – mehr als 50 Jahre lang. Doch als der Politikwissenschaftler Stefan Appelius auf den «Spionagering Raue» stößt, beginnt sie zu erzählen. Appelius hat die politischen Wellen, die die Spione auslösten, nachgezeichnet. Doch die menschlichen Hintergründe – die kann nur Olga Raue schildern.

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