In Zeiten der Verunsicherung verschiebt sich mitunter der Blickwinkel auf unsere Welt – und bei einigen von uns auch wortwörtlich. Viele arbeiten in diesen Tagen mobil, in ihren eigenen vier Wänden und mit neuer Aussicht. Und vielen fällt es schwer, mit dieser Situation umzugehen. Drinnen zu bleiben und nicht zu wissen, was noch auf uns zukommt.
Wie viele andere machen wir Rowohltianer uns Sorgen - um unsere Familien, Freunde und Bekannte und um unsere Autor*innen. Einige unserer Autor*innen haben wir gefragt, wie sie mit der Pandemie leben. Was sie gerade beschäftigt. Einige der Texte, die uns erreicht haben, sind humorvoll, viele machen nachdenklich und ein paar auch traurig, die meisten geben uns aber Hoffnung. Hoffnung, dass wir diese Krise gemeinsam irgendwie überstehen werden.
«Heute ist also Tag 25. Jeden Abend male ich eine neue Markierung in die obere rechte Ecke unseres Wandkalenders, einen kurzen, vertikalen Strich, am nächsten Tag dann einen weiteren und am darauffolgenden ebenfalls. An jedem fünften Tag streiche ich die anderen vier Striche diagonal durch, wie das die Leute in Knastfilmen machen, um ihr Zeitgefühl nicht zu verlieren.
25 Tage des Zu-Hause-Bleibens mit meinen Kindern: Agnes (5) und Simon (2). Die meiste Zeit verbringen wir drinnen, im vierten Stock unseres Hauses. Oder wir spielen ein oder zwei Stunden im Hinterhof oder, wenn er nicht überlaufen ist, in einem nahe gelegenen Park. Die Kindergärten sind allesamt noch geschlossen, und von Spielplätzen sollen wir uns auch fernhalten. Es gibt keine Restaurants, die man besuchen könnte, keine geöffneten Kinos, von allem nicht viel. Ich bin daran gewöhnt, dass die zahlreichen Flugzeuge, die in Oslo landen oder von hier starten, Kondensstreifen am Himmel erzeugen, die sich genau über unserem Haus kreuzen. Seit Wochen habe ich keine Flugzeuge mehr gesehen oder gehört. Ich vermisse sie. Dass ich das tue, überrascht mich. Ich vermisse tatsächlich das Geräusch, den Anblick: spät am Abend auf dem Balkon zu stehen und diese blinkenden Landescheinwerfer über mir zu sehen, die signalisieren, dass die Menschen zum Feierabend nach Hause reisen oder vielleicht zum ersten Mal in Oslo ankommen.
Die Straßen sind so gut wie verlassen. Ich lebe mitten in Oslo. Es ist, als lebte ich in einer verlassenen Filmkulisse.
Davon abgesehen nimmt alles mehr oder weniger seinen gewohnten Gang. Anfänglich war ich ein bisschen überrascht, dass ich, anders als anscheinend alle anderen, nicht das Gefühl hatte, dass mein Leben gerade auf den Kopf gestellt wurde. Aber die Sache ist die: Ich bin schon immer zu Hause geblieben. Das ist meine Standardeinstellung. Als Schriftsteller habe ich mich früh gegen ein Atelier oder ein Büro als Arbeitsplatz entschieden. Wenn ich keine reguläre Arbeitsstelle haben würde, mit regulärer Gehaltszahlung und Sozialleistungen, dann wollte ich auch nicht zur Arbeit gehen. Daraus ist mein bescheidener Protest entstanden: Während alle anderen in ihre Autos steigen, zur Straßenbahn laufen oder mit dem Rad fahren, bleibe ich zu Hause, bleibe ich genau hier. Dem wohnt auch ein gewisser Zauber inne: Wenn alle bei der Arbeit sind, wird es in den Straßen und in unserem Mietshaus gespenstisch still. Als sei ich der einzige Mensch auf der Welt.
Außer dass jetzt jeder zu Hause ist. Aber auf eine stille Art, mit menschenleeren Straßen und ohne Verkehr. Und jeder hat das seltsame Gefühl, entkoppelt zu sein, und befürchtet vielleicht sogar manchmal, mitten in der Nacht, tatsächlich der einzige Mensch auf der Welt zu sein.
25 Tage. Um ehrlich zu sein, fühlt sich das gar nicht so lang an. Oder vielleicht sind wir einfach schon so lange zu Hause geblieben, dass Zeit nicht mehr so wichtig ist. Noch ist bei uns alles in Ordnung.
Die Kinder sind geduldiger, als ich es mir jemals hätte vorstellen können, und um ihnen dafür zu danken, bemühe ich mich, so viel Zeit wie möglich mit ihnen zu verbringen, mit ihnen zu spielen, ihnen Aufgaben zu stellen und einfach bei ihnen zu sein, um dadurch aus der Zeit, die zusammen zu verbringen wir gezwungen sind, etwas Gutes entstehen zu lassen. Meine Kinder nur verkümmern zu sehen in dieser Zeit des Nichts, ohne jegliche Aufgaben und ohne Freunde zum Spielen, ist das Letzte, was ich will. Ich habe beschlossen, das Beste daraus zu machen, und da ich sowieso nicht viel zum Schreiben komme, wenn die Kinder um mich herum schreien, und um meiner Frau einen vollen Arbeitstag im Homeoffice zu ermöglichen, verbringe ich meine Tage mit den Kindern und baue all die unmöglichen, phantastischen Welten genau hier, innerhalb der Wände unserer Wohnung. Mir kommt es mehr und mehr so vor, als würden diese Monate unseren Kindern als eine großartige Zeit in Erinnerung bleiben, als Zeit, in der ihre Eltern rund um die Uhr für sie da waren, in der immer gespielt wurde und über der ein gewisser Zauber lag.
Von Zeit zu Zeit sprechen wir über Skype oder Facetime mit ihren Großeltern. Obwohl diese nur etwa 600 Kilometer entfernt leben, könnten sie sich genauso gut am anderen Ende der Welt aufhalten. Wir dürfen sie nicht besuchen, dürfen unsere Heimatstadt nicht verlassen, wenn es nicht absolut notwendig ist. Dadurch wird die Entfernung größer. Das Gleiche gilt für Freunde in anderen Ländern Europas, darunter Italien, und Freunde in New York. Im Moment sind sie weiter weg als jemals zuvor.
Noch sind alle, die ich kenne, wohlauf. Meine Mutter, während meiner Kindheit Krankenschwester, hat sich die Hände geschrubbt und arbeitet – mehr als 30 Jahre nachdem sie damit aufgehört hatte – wieder als Krankenschwester, um weit jüngeres, bereits überlastetes und erschöpftes Pflegepersonal zu entlasten.
Als Schriftsteller habe ich großes Glück gehabt. Nach einem anstrengenden Jahr 2019, in dem ich viel gereist war, hatte ich meinen Kalender freigeräumt, sodass ich außer einer Lesung in Berlin im Frühling keine Veranstaltungen absagen musste, kein Projekt aufzuschieben war. Einzig meine Galerie, die in Kürze meine jüngsten Siebdruckbilder ausstellen wollte, musste schließen. Aber meine Bilder sind online käuflich zu erwerben, und sobald die Galerie wieder eröffnet, wird die Ausstellung stattfinden. Also ist kein ernster Schaden entstanden. Zumal sowohl in Norwegen und Dänemark als auch insbesondere in den Niederlanden mein jüngster Roman, Max, Mischa & die Tet-Offensive, als für die Quarantäne-Zeit hervorragend geeigneter Tausendseiter gehandelt wird und die Niederländer innerhalb einer Woche 20.000 Exemplare nachdrucken mussten. Auf der anderen Seite stehen nicht wenige meiner Freunde – Künstler, Schauspieler und Musiker – vor dem potenziellen Ruin. Es ist allgemein bekannt, dass leider die Reichen und die Großkonzerne die Ersten sind, die gerettet werden.
Abends steige ich manchmal zu unserer Dachterrasse hinauf, von der man den Oslofjord überblickt. Mitunter schwillt der Vogelgesang aus den nahe stehenden Bäumen und von den umliegenden Dächern auf ein bislang unerreichtes Niveau an, wenngleich es kaum ein anderes Geräusch gibt, mit dem er in Konkurrenz stünde.
Während ich diese Zeilen schreibe, hat der norwegische Gesundheitsminister endlich erklärt, dass die Epidemie in Norwegen nun unter Kontrolle sei. Nicht vorbei, aber unter Kontrolle. Vorerst. Solange wir keine Dummheiten anstellen. Im Stillen atmen wir erleichtert auf. In den kommenden Wochen und Monaten werden die Dinge uns irgendwann wieder vertraut erscheinen, selbst wenn es wahrscheinlich für eine lange Zeit starke Einschränkungen im zwischenmenschlichen Kontakt und Umgang geben wird. Selbst wenn die Vertrautheit nicht die gleiche Vertrautheit wie vor dem 12. März sein wird. Aber wir werden es schaffen. Das glaube ich.
Eines ist sicher: Wenn der Kindergarten wieder öffnet, werde ich es vermissen, den ganzen Tag meine Kinder um mich zu haben; werde ich es sogar vermissen, dass ich mich von ihrem konstanten Lärmpegel und Gequatsche schwindelig fühle; werde ich es vermissen, mich darüber zu ärgern, nicht genug Zeit für mich zu haben und nicht genug Ruhe, um mich auf die Arbeit zu konzentrieren, weil sie mich für einen Baum halten, auf dem es sich hervorragend klettern und Spaß haben lässt. Zeiten wie diese erschaffen unzählige Mikrokosmen, und wir, meine Frau, meine Kinder und ich, haben in einem wunderbaren, wenn auch kraftraubenden Mikrokosmos gelebt. Darin liegt ein gewisser Wert, den man leicht übersieht, wenn man ausschließlich auf die Zukunft blickt.
Passt auf euch auf, Freunde.
Johan Harstad»
Aus dem Englischen von Sophia Komor