Toni Morrison: Reading is a revolutionary act

Toni Morrison (1931–2019) ist die bedeutendste afroamerikanische Autorin des 20. Jahrhunderts. Mit ihren Romanen erlangte sie Weltruhm, 1993 wurde sie als erste Schwarze Autorin mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. In ihrem Werk gab sie denjenigen eine Stimme, die zuvor nicht gehört worden waren: Schwarzen Frauen. Ihre Bücher sind heute noch genauso relevant wie bei erstem Erscheinen - höchste Zeit also, Morrison (wieder) zu lesen. Mit den Neuübersetzungen ihrer großen Romane, zeitgemäßen Covern und Begleittexten deutschsprachiger Autorinnen machen wir ihr Werk einer neuen Generation zugänglich und laden treue Leser:innen zur Relektüre ein.

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«Das Erste, was man über Toni Morrison wissen muss, ist: Sie schrieb nicht über Weiße. Sie schrieb nicht über Weiße. Sie schrieb nicht einmal für weiße Leserinnen und Leser.» Mithu Sanyal

Wer war Toni Morrison?

«Ich wollte Schwarze Literatur schreiben, die unwiderruflich und unstreitig Schwarz ist, nicht weil es ihre Figuren sind oder weil ich es bin, sondern weil sie sich die anerkannten und verifizierbaren Prinzipien Schwarzer Kunst zur schöpferischen Aufgabe macht und sich durch sie beglaubigt sehen möchte.» (aus: «Selbstachtung», S. 420)
Ihre Romane über das Schwarze Amerika haben Toni Morrison Weltruhm gebracht. In der Begründung zur Verleihung des Literaturnobelpreises von 1993 hieß es, sie mache mit ihrer von «visionärer Kraft und poetischer Prägnanz» geprägten Romankunst «eine wesentliche Seite der amerikanischen Wirklichkeit» sichtbar. Bis heute hat ihr Werk, haben Romane wie «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Menschenkind» oder «Jazz» nichts an Relevanz verloren. Toni Morrison schrieb für und über Menschen, deren Leben die Traumata von Versklavung und rassistischer Gewalt prägten, sie erklärte nicht, sie schrieb auf, was zuvor über die Lebensrealitäten des Schwarzen Amerikas ungesagt geblieben war. Die Historie und ihr Fortleben, aber auch die Wertschätzung des eigenen kulturellen Erbes zeichnen Morrisons Werk aus.

Geboren wurde Morrison als Chloe Adelia Wofford 1931 in der Kleinstadt Lorain, Ohio. Ihre Eltern Ramah und George Wofford stammten aus der Arbeiterklasse der ehemaligen Sklavenhalterstaaten Georgia und Alabama. Chloe war das zweite von vier Kindern. Schon früh erfuhr Morrison das, was sie später als Fundament des Rassismus bezeichnete: Menschen als «die Anderen» zu bezeichnen, sie zu klassifizieren, auszuschließen und ihnen ihre Menschlichkeit abzusprechen – und damit rassistisch motivierte Gewalt vermeintlich zu rechtfertigen.

Die schriftstellerische Imagination und die Macht der Worte wurden für Morrison zum Instrument, sich vom Griff der Geschichte zu befreien und selbst zu ihrem Subjekt zu werden. Sie widmete ihnen ihr Leben. Morrison studierte Anglistik und wurde Dozentin für Englische Literatur an der Texas Southern University in Houston und der Howard University in Washington, D.C., und hatte ab 1989 einen Lehrstuhl für afroamerikanische Literatur in Princeton inne. 1958 heiratete sie den jamaikanischen Architekten Howard Morrison, mit dem sie zwei Söhne bekam. Nach ihrer Scheidung begann sie 1964 als Verlagslektorin bei Random House in New York und wurde dort die erste Schwarze Cheflektorin. Weil sie Bücher, die Menschen wie sie selbst ansprachen, die das Schwarze Leben in Amerika abbildeten, Geschichten, die sie selbst gern lesen wollte, im Verlagsprogramm vermisste, verlegte sie sie, gab Autor:innen wie Angela Davis oder Gayle Jones – und der Boxlegende Muhammad Ali – ein Forum.

Und sie schrieb sie selbst. Ihr erster Roman «Sehr blaue Augen» erschien 1970. Morrison sagte später darüber: «Ich wollte dieses Buch lesen, und niemand hatte es geschrieben, also dachte ich, dass ich es schreiben würde, um es zu lesen.» Es folgten zehn weitere Romane, zahlreiche Essays, eine Erzählung und vier Kinderbücher, in denen sie Empfindungen und Erfahrungen, die vorher unbeachtet geblieben waren, mit Worten sichtbar und greifbar machte.

In «Menschenkind», ihrem fünften Roman, der als einer der bedeutendsten amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts gilt und 1988 mit dem von Literaturkritiker:innen für Morrison lang geforderten Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, setzt sie den Opfern der Sklaverei ein Denkmal. 1993 wurde sie als erste afroamerikanische Frau mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. In ihrer Nobelpreisrede bewies Toni Morrison abermals die Wirkungsmacht von Worten und Geschichten mit einem Gleichnis über eine blinde, weise Frau, die jungen Menschen aufzeigt, wie sie mit bloßen Worten einen Menschen unterdrücken, befreien, ehren oder beglücken können – und wie wichtig es ist, sich dieser Macht bewusst zu sein und sie richtig zu nutzen.

Toni Morrison wusste genau, wie sie Sprache nutzte, wusste mit ihren Worten die Lebensrealitäten afroamerikanischer Menschen und insbesondere Frauen zu würdigen.

«Wir sterben. Das mag der Sinn des Lebens sein. Aber wir haben Sprache. Das mag die Melodie des Lebens sein.»

Mein Großvater gab ständig damit an, dass er die Bibel fünf Mal von vorne bis hinten durchgelesen hatte. Ich dachte, warum liest er ausgerechnet dieses Buch immer wieder? Dann wurde mir klar, dass es keine anderen Bücher gab. Zu seiner Zeit war Lesen für ihn verboten. Und es war weißen Menschen verboten, Schwarzen Kindern das Lesen beizubringen. Lesen war also ein revolutionärer Akt.

Dieses Gefühl der Widerständigkeit durchdrang unser Haus, obwohl ich anfangs nicht verstand, woher es kam. Später dann schon. Meine Schwester brachte mir das Lesen bei, als ich drei war. Wir knieten mit einem Kieselstein auf dem Gehweg und schrieben: «Katze», «Hund», «ich hasse dich» oder «Katz» und «Ich hass dich», weil wir das «E» noch nicht kannten.

Eines Tages bemerkten wir ein anderes Wort auf der Straße, etwa einen halben Block entfernt, und wir beschlossen, es aufzuschreiben, unseren Wortschatz zu erweitern. Wir schrieben «F», schauten rüber, «U», und wollten uns gerade an das C machen, als meine Mutter aus dem Haus rannte und schrie: «Was ist los mit euch?» Sie war rasend vor Wut.

«Du, hol einen Eimer Wasser, du, hol einen Besen.» Wir weinten, weil wir nicht wussten, was passiert war, warum wir die Buchstaben verschwinden lassen mussten. Und sie hat das Wort nicht ausgesprochen, hat nicht erklärt, was es bedeutet. Das hat sie nie getan, in meinem ganzen Leben nicht. Ich weiß nicht, wie alt ich war, bevor ich es herausfand. Sie hat uns nie gesagt, worum es geht.

Aber so verstand ich, dass Worte Macht haben. Wörter konnten das mit meiner Mutter machen, ein Wort, das ich nicht einmal kannte.

«Die große Neuentdeckung des letzten Jahres war für mich allerdings Rezitativ: Diese knappe Erzählung ist wie ein Kondensat von  Morrisons Gesamtwerk, sowohl thematisch als auch stilistisch, und ich entdecke auch jetzt immer noch neue Bezüge und Querverbindungendarin. Ein kleines Meisterwerk!»
  • Du übersetzt erst seit Kurzem Toni Morrison, bist gerade an deinem zweiten Buch von ihr. Wo bist du Morrisons Werk erstmals begegnet? Gibt es einen Text von ihr, der dir besonders wichtig ist?

Zum ersten Mal habe ich Toni Morrison vor rund 25 Jahren gelesen, noch im Studium – nicht im Rahmen eines Seminars, sondern als Teil meines bis heute fortgeführten Privatprojekts, mir möglichst viele und vielfältige englischsprachige Autorinnen und Autoren zu erschließen. Damals hat mich besonders «Beloved» bewegt und beeindruckt, und ich bin sehr gespannt darauf, wie es sein wird, diesem Text bald übersetzerisch wieder zu begegnen. Ein bisschen Angst habe ich auch davor, denn beim Übersetzen muss ich den Text, die Geschichte, die Figuren und alles, was ihnen geschieht und was sie erleben und empfinden, ja sehr, sehr nah an mich heranlassen; es gibt kaum eine intensivere Art des Lesens und Begreifens als das Übersetzen, und das ist bei einem Buch, das einen schon beim «normalen» Lesen zutiefst erschüttert, noch einmal eine ganz eigene Herausforderung. Die große Neuentdeckung des letzten Jahres war für mich allerdings «Rezitativ»: Diese knappe Erzählung ist wie ein Kondensat von Morrisons Gesamtwerk, sowohl thematisch als auch stilistisch, und ich entdecke auch jetzt immer noch neue Bezüge und Querverbindungen darin. Ein kleines Meisterwerk!

 

Schön finde ich auch immer, eine Autorin oder einen Autor sprechen zu hören und im Gespräch zu sehen: Stimmfarbe, Sprechrhythmus, Gesten, Lachen, Ernstsein, der ganze Habitus – auch das fließt irgendwie in mein Herangehen an die Texte ein und in die Entscheidungen, die ich beim Übersetzen treffe.

  • Wie näherst du dich einer Autorin an, die für dich als Übersetzerin neu ist?

Indem ich versuche, möglichst viel von ihr zu lesen – und im Fall von Toni Morrison natürlich auch über sie. Damit stehe ich gefühlt noch ganz am Anfang, denn es ist ja unendlich viel über ihre Werke geschrieben worden. Auch sie selbst hat sich dankenswert oft geäußert, in großartigen Essays ebenso wie in Interviews; das ist für meine Arbeit immens wichtig, gerade bei einer Autorin wie ihr, die ja leider nicht mehr lebt. So finde ich die Antwort auf die vielen Fragen, die ich an sie hätte, im Idealfall in den Fragen, die andere ihr im Lauf der Jahre gestellt haben.
Schön finde ich auch immer, eine Autorin oder einen Autor sprechen zu hören und im Gespräch zu sehen: Stimmfarbe, Sprechrhythmus, Gesten, Lachen, Ernstsein, der ganze Habitus – auch das fließt irgendwie in mein Herangehen an die Texte ein und in die Entscheidungen, die ich beim Übersetzen treffe. Es war mir leider nie vergönnt, Toni Morrison live bei einer Lesung zu erleben – aber zum Glück gibt es ja das Internet, wo sich etliche Fernsehinterviews mit ihr finden. Und einen Dokumentarfilm über sie gibt es auch: Toni Morrison: The Pieces I Am von 2019, dem Jahr, in dem sie starb. All das hilft sehr, und ich bin dankbar dafür.

 

Ihre Figuren sind gemischte Charaktere, differenziert gezeichnet in all ihren guten und schlechten Eigenschaften und mit vielen unterschiedlichen Aspekten, die sie in allen Facetten zeigen und oft erklären – wenn auch nicht rechtfertigen –, wie sie wurden, was sie sind.

  • Was macht für dich Toni Morrisons Sprache aus? Wie bringst du sie ins Deutsche?

Für mich vollbringt Toni Morrisons Sprache das Wunder, einerseits ungeheuer klar und präzise zu sein – knapp, zurückgenommen und kein Wort zu viel –, andererseits und gleichzeitig aber hoch poetisch, bildhaft, schwebend und oft auch mehrdeutig. Manchmal sitze ich stundenlang vor einem Satz und habe den Eindruck, immer weitere Bedeutungsebenen und -schichten in ihm zu entdecken, je länger ich ihn anschaue. Und die gilt es dann alle ins Deutsche zu bringen ... eine (fast) unmögliche Aufgabe, zumindest aber eine echte Herausforderung.
Überrascht hat mich beim Wiederlesen jetzt die große Wärme in ihrem Ton und der Humor – das hatte ich so aus meinen ersten Lektüren nicht in Erinnerung. Und es hat den faszinierenden Effekt, dass alle Figuren in ihren Büchern, ganz gleich, wer sie sind und was für Entsetzlichkeiten sie begehen, auch eine Wertschätzung erfahren – selbst jemand wie Cholly Breedlove in «Sehr blaue Augen». Ihre Figuren sind gemischte Charaktere, differenziert gezeichnet in all ihren guten und schlechten Eigenschaften und mit vielen unterschiedlichen Aspekten, die sie in allen Facetten zeigen und oft erklären – wenn auch nicht rechtfertigen –, wie sie wurden, was sie sind.
Eine weitere große Herausforderung aus übersetzerischer Perspektive ist der Umgang mit dem African American Vernacular English, vor allem in der wörtlichen Rede. Das ist ein gewaltiges Thema, mit dem sich Übersetzende aus dem Englischen schon lange auseinandersetzen, ohne bisher zu einer allgemeingültigen Lösung zu kommen. Es füllt Nachworte, Podien, ganze Bücher, ich skizziere hier also nur in aller unangemessenen Kürze das Grundproblem: Das Deutsche hat keine Variante, die dieser Variante des Englischen – kein Dialekt oder Soziolekt, sondern eine Sprache mit eigenen Regeln, eigener Grammatik und eigenem Vokabular – in ihrer historischen Dimension und ihren Ursprüngen in der Zeit der Versklavung ebenso wie ihrer heutigen flächendeckenden Verwendung über alle Klassen und Bildungsschichten hinweg auch nur im Ansatz entsprechen würde. Wir müssen also immer auf eine mehr oder weniger ausgeprägte Kunstsprache zurückgreifen, wenn wir sie im Deutschen markieren wollen – was wir müssen, denn in den englischen Originalen erfüllt sie eine klare Funktion, nicht nur stilistisch, sondern vor allem auch im Hinblick auf Identität und Community. Die Entscheidung, wie stark wir markieren, treffen wir bisher alle für jede Autorin, jeden Autor, jedes Buch neu, von Fall zu Fall.
Beim Übersetzen von «Sehr blaue Augen» habe ich mich für eine zurückhaltende Markierung der wörtlichen Rede entschieden, die über dezente Umgangssprachemarker, Wortwahl, vor allem aber über den sprachlichen und syntaktischen Rhythmus funktioniert. Der Rhythmus eines jeden Buches ist auch außerhalb der wörtlichen Rede ein entscheidendes Merkmal von Toni Morrisons Sprache und Stil, auf ihn kommt es mir beim Übersetzen also sehr an. Mein Ziel ist, einen natürlichen Fluss zu erzeugen, der im Deutschen funktioniert und idiomatisch klingt, letztlich aber doch immer auch ein klein wenig anders. Ob ich diese Strategie aber genau so auch für die noch kommenden Neuübersetzungen anwenden werde, anwenden kann? Das muss wohl auch ich von Fall zu Fall entscheiden.

 

Auf jeden Fall ist es aber sehr spannend, wenn in meinem intimen Dialog mit dem Originaltext noch eine weitere Stimme mitschwingt, die diesen Dialog auch schon einmal geführt hat, vor mir und anders als ich, von der ich mich absetzen und an der ich mich reiben kann, von der ich aber manchmal auch eine gute Idee übernehme oder, häufiger, feststelle, dass wir an einer Stelle dieselbe Grundidee hatten, sie dann aber unterschiedlich umgesetzt oder weitergeführt haben.

  • Du übersetzt gerade Toni Morrisons Debütroman «Sehr blaue Augen», «Rezitativ», Morrisons einzige Erzählung, hast du erstmals ins Deutsche übertragen. Macht es einen Unterschied, ob man ein Buch neu übersetzt und es bereits eine ältere Übersetzung gibt oder ob man die Erste ist, die den Text ins Deutsche bringt?

Eine Neuübersetzung ist schon etwas deutlich anderes als eine Erstübersetzung, denn die bereits vorhandene Übersetzung (bei älteren Klassikern sind es mitunter sogar mehrere) ist ja in der Welt, und ich muss sie als Folie mitdenken, ohne mich allzu sehr von ihr beeinflussen zu lassen. Das ist eine kleine Gratwanderung, und die entscheidende Frage ist immer: Zu welchem Zeitpunkt meiner eigenen Arbeit schaue ich in die ältere Übersetzung? Bei früheren Neuübersetzungen habe ich das meistens erst nach Fertigstellung meiner eigenen Erstfassung getan. Bei «Sehr blaue Augen» hat mich aber einfach zu sehr interessiert, mit welchem Ansatz die Kollegin gearbeitet hat, und ich habe mir einige Stellen sofort angesehen – mit dem Erfolg, dass ich das Buch dann ganz weit vom Schreibtisch weglegen musste, um nicht immer wieder nachzuschlagen und zu vergleichen ...
Es kann aber tatsächlich auch hilfreich sein, sich anzusehen, wie jemand anders mit schwierigen Stellen umgegangen ist – sei es, weil ich feststelle: Aha, das wurde hier ganz falsch verstanden, oder aber merke, dass ich selbst auf dem Holzweg war. Auf jeden Fall ist es aber sehr spannend, wenn in meinem intimen Dialog mit dem Originaltext noch eine weitere Stimme mitschwingt, die diesen Dialog auch schon einmal geführt hat, vor mir und anders als ich, von der ich mich absetzen und an der ich mich reiben kann, von der ich aber manchmal auch eine gute Idee übernehme oder, häufiger, feststelle, dass wir an einer Stelle dieselbe Grundidee hatten, sie dann aber unterschiedlich umgesetzt oder weitergeführt haben. Das gefällt mir gut und fügt der Arbeit eine Dimension hinzu, die natürlich fehlt, wenn ich als Erstübersetzerin ganz allein mit dem Text bin. Es hat einfach beides seinen Reiz.

«Toni Morrisons Worte sind für mich bis heute schmerzhaft und heilsam zugleich. Sie sprechen zu mir auf einer tiefen Seelenebene.» Mirjam Nuenning
  • Wo bist du Toni Morrisons Werk erstmals begegnet? Gibt es einen Text von ihr, der dir besonders wichtig ist?

Das erste Mal bin ich Toni Morrison im Englischunterricht in der 8. Klasse begegnet. Wir lasen damals einen Ausschnitt aus «The Bluest Eye», und plötzlich fand der innere Schmerz, den ich als Schwarzes Mädchen in einem weißen Land empfand, einen literarischen Ausdruck. Für mich war das ein großer Wendepunkt in meiner Identitätsfindung und meinem Verständnis der Welt. Toni Morrisons Worte sind für mich bis heute schmerzhaft und heilsam zugleich. Sie sprechen zu mir auf einer tiefen Seelenebene.

  • Du hast Toni Morrisons berühmten Essay «Im Dunkeln spielen» neu durchgesehen und überarbeitest gerade die Übersetzung von «Sula». Warum war diese Überarbeitung der Übersetzungen nötig?

Leider wird in den alten Übersetzungen rassistische Sprache reproduziert. Toni Morrison hat in ihren Werken den Rassismus und seine Auswirkungen auf die menschliche Psyche analysiert und dekonstruiert. Es ist tragisch, wenn eben genau dieser Rassismus sich in den deutschen Übersetzungen widerspiegelt, sei es in der Wortwahl oder in stereotypen Bildern und Denkmustern, die sich bemerkbar machen.

  • Toni Morrison ist Nobelpreisträgerin, ihre Romane haben sich weltweit millionenfach verkauft. Doch zurzeit begegnet sie mir wirklich überall, auch jüngere Leser:innen entdecken sie. Wie erklärst du dir das?

Ich denke, dass Rassismus in den letzten Jahren in der deutschen Gesellschaft besprechbarer geworden ist, insbesondere unter jüngeren Menschen. Die weiße Mehrheitsgesellschaft beginnt nun, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die Schwarze Menschen schon seit Jahrhunderten plagen. Die Menschen wollen Rassismus verstehen und das nicht nur auf einer rein kognitiven Ebene, sondern auch auf einer seelischen Ebene. Toni Morrison spricht mit ihrem Werk beide Ebenen an, die Kopfebene und die Herzebene. Sie ist eine fantastische Geschichtenerzählerin, die sprachlich gesehen unübertrefflich ist. Für viele Schwarze Frauen meiner Generation ist und bleibt sie die Königin.

Toni Morrison erzählt angstfrei, ohne Rücksicht auf Erwartungen anderer. In ihren Romanen bekommen die zu oft Übersehenen und Ausgegrenzten eine Bühne, beschrieben mit unglaublich schöner Sprache und Feingefühl, sodass sie selbst in brutalen Momenten nie die Würde und Menschlichkeit verlieren. Morrisons Bücher gehören zu jenen, die Leben verändern - die Perspektiven so drastisch erweitern, dass man nach dem Lesen gar nicht mehr weiß, wie Menschen ohne ihre Geschichten auskommen können.

Alice Hasters

Alice Hasters
© Paula Winkler

Ich bewundere Toni Morrisons Ehrlichkeit. Ich bewundere, wie sie ihren Platz in der Welt einnahm. Ich glaube ihr.

Chimamanda Ngozi Adichie

Chimamanda Ngozi Adichie
© Picture Alliance

Toni Morrison ist unser Leitstern, unsere Inspiration.

Bernardine Evaristo

Bernardine Evaristo
© Picture Alliance

Alle, die lesen, und alle, die schreiben, sind Toni Morrison zu Dank verpflichtet für den Raum, den sie geöffnet hat.

Zadie Smith

Zadie Smith
© Picture Alliance

 

Toni Morrison bei Rowohlt

Rowohlt ist von Anfang an Toni Morrisons deutscher Verlag. Zuerst erschien Morrisons dritter Roman «Solomons Lied» im Januar 1979 als Rowohlt Hardcover, ein halbes Jahr später folgte ihr Debüt «Sehr blaue Augen» in der feministischen Taschenbuchreihe «rororo neue frau». Diese Reihe und ihre Leserinnen machten Morrison in Deutschland populär, «Sehr blaue Augen» ist bis heute das meistverkaufte von Morrisons Büchern in Deutschland (Über die Jahre wurden über 200.000 Exemplare der verschiedenen Taschenbuchausgaben verkauft. 2023 erscheint der Roman erstmals als Hardcoverausgabe). Man kann also sagen: Der Feminismus hat Morrison nach Deutschland gebracht. Zum Erscheinen ihres vierten Romans «Tar Baby» ging Toni Morrison 1983 auf Lesereise, was ihr weitere Leser:innen bescherte. Morrison wurde von nun an auch vom deutschsprachigen Feuilleton sowie an den Universitäten rezipiert. Angela Praesent, Herausgeberin der Reihe «neue frau» und Toni Morrisons langjährige Lektorin bei Rowohlt, schrieb:

Als ich die ersten Romane von Toni Morrison las, packte mich jene seltsame, kein Wenn und Aber duldende Sicherheit, die einer, der beruflich mit Büchern umgeht, mit viel Glück ein paar seltene Male im Leben erfährt. Das hier ist ganz große Literatur. Wenn ich mich da irre, bin ich ein Irrtum.