Im Gespräch

«Ich hatte Glück, ich entkam der Armut»

Dramatiker, Romancier, streitbarer Publizist, Büchner-Preisträger: ein Interview mit Lukas Bärfuss

Ein Frauenleben: Manchmal fehlt es an Liebe. Immer fehlt es an Geld.

Adelina, Tochter italienischer Einwanderer, arbeitet in einer Zürcher Fabrik, als sie nach kurzem Liebesglück mit einem Kind allein dasteht. In der größten Not lernt sie Emil kennen, der ihre Schulden bezahlt und Adelina mit der kleinen Emma bei sich aufnimmt. Außer an der Liebe fehlt es an nichts. Emil kauft ein Anwesen in den Bergen des Piemont und scheint auf gemeinsames Glück zu hoffen. Aber dann verschwindet das Kind spurlos. Adelina macht sich auf die Suche, begleitet von einem schweigsamen Unbekannten. Er bringt sie nach Mailand, zu Menschen, die an die Revolution glauben und Adelina versprechen, die verlorene Tochter zu finden. Sie muss nur bereit sein, sich dem Kampf anzuschließen, und mit ihren Schweizer Papieren über die Grenze gehen, auf eine gefährliche Mission.

DAS INTERVIEW

Wer bei Wikipedia Ihre Biografie aufruft, dürfte verblüfft sein. Lukas Bärfuss – gestern u. a. Tabakbauer, Eisenleger, Gabelstaplerfahrer, Gärtner und Buchhändler, heute Dramatiker, Erzähler, Essayist, Dramaturg, Übersetzer, Hörspielautor und Dozent. Wie geht sowas in ein Leben rein?
Bis zu meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr arbeitete ich in vielen Berufen. Eine Ausbildung konnte ich nicht machen, das Geld fehlte. Ich musste für mich selber sorgen. Mein Brot verdiente ich auf Baustellen, in der Landwirtschaft und in den Fabriken. Dann fand ich eine Stelle in einer Buchhandlung. Sieben Jahre arbeitete ich als Buchhändler, dann wurde ich Schriftsteller und leitete unsere Theatergruppe 400asa. Dort lernte ich das dramaturgische Handwerk. Unterrichtet habe ich schon früh, immer mit großer Freude. Wissen und Erfahrungen zu teilen ist sehr beglückend.

Ihr neuer Roman «Die Krume Brot» zeigt Armut in all ihren zermürbenden, demoralisierenden Facetten: Geldnot, emotionale Vernachlässigung, physische Gewalt, Ausschluss von Bildung und kultureller Teilhabe. Wie viel von dem, was wir in der Familiengeschichte Ihrer Protagonistin Adelina lesen, kennen Sie aus eigenem Erleben?
Alles. Die Zahnschmerzen, die Schulden, die Verarmung des Lebens, der Möglichkeiten, der Gedanken. Wer nicht weiß, wie er finanziell durch den Tag kommt, hat keine Pause, keine Ruhe, keine Kraft. Ich hatte Glück, ich entkam der Armut. Vielen gelingt das nie.

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Portugals Kolonialkriege in Afrika, der Putsch in Chile, Vietnam, der Palästina-Konflikt etc.: Die 1970er waren ein extrem beunruhigendes Jahrzehnt. Ist das der Grund, weshalb am Ende von Adelinas Suche nach ihrer Tochter Italiens Linksterrorismus ins Spiel kommt – auch wenn der Name Brigate Rosse nicht fällt und der Mailänder Militanten-Chef als Renato und nicht als Renato Curcio figuriert?
Es ist vor allem das Jahrzehnt meiner Kindheit. Ich bin mit diesen Krisen aufgewachsen. Die Gewalt jenes Jahrzehnts wirkt bis heute nach. Wirtschaftlich, politisch, kulturell. Viele Konflikte in unserer Gesellschaft haben ihre Wurzeln in jener Zeit. Und die Linke hat sich nie wieder vom bewaffneten Irrsinn jener Jahre erholt.

Es sind die Themen, die Dringlichkeit des Tons, das Kopfüber-Hinein in gesellschaftliche Diskurse, was Sie für viele zum politischsten Schriftsteller der Schweiz macht – da werden gern schon mal Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt als Referenzgrößen aufgerufen. Allzu froh scheinen Sie über dieses Etikett aber nicht zu sein, oder?
Darüber habe ich mich nie aufgehalten. Ich bin unvergleichlich.

Die Gegner kommen von alleine.

«Nur vor etwas will ich Dich warnen, lieber Bärfuss. Ich warne Dich vor der Rache derer, die Du herausforderst.» Das schrieb Ihr Schweizer Schriftstellerkollege Pedro Lenz, nachdem Ihr Text «Die Schweiz ist des Wahnsinns» 2015 in der FAZ erschienen war. Wie nah haben Sie die zum Teil infamen Reaktionen («paranoid», «Nestbeschmutzer») an sich herangelassen?
Ich habe viel Unterstützung erfahren. Und ich finde, man sollte sich im Leben um die Freunde, um die Alliierten, um die Komplizen kümmern. Die Gegner kommen von alleine.

«Welchen Faden ich auch immer aufnehme, hinter der nächsten oder spätestens der übernächsten Ecke führt er zu einem Massengrab», haben Sie in der Dankesrede für den Georg-Büchner-Preis gesagt. Der Völkermord in Ruanda, der Umgang der Schweiz mit dem Holocaust, Kolonialismus, die schändliche Asylpolitik ... Haben leichte(re) Themen bei Ihnen keine Chance?
Doch, gewiss, ich mag auch die leichte Unterhaltung. Aber der Punkt ist: Ein Stoff muss mich über viele Jahre in Bewegung halten, er muss mir während sehr langer Zeit stets neue Einsichten ermöglichen und mein Interesse wachhalten. Und deshalb ist es sinnvoller, wenn ich mich an die großen Fragen halte. Das Große ist selten leicht. Und natürlich bin ich in dieser Weise ein Kind geblieben: Ich wünsche mir, dass wir als Menschen eines Tages vom Krieg und von der Gewalt werden lassen können.

Unsere Literatur, gerade die Klassiker, das, was man früher Kanon genannt hat, trägt ein schweres Erbe..

In einem Lukas-Bärfuss-Porträt der Tageszeitung DIE WELT lesen wir, es gebe «diese verbreitete Heinrich-Böll-Angst, ein guter Mensch, aber ein schlechter Autor zu sein». Und weiter: «Alle seine Vorbilder, und er zählt viele auf, seien Schweinehunde gewesen.» Spendieren Sie uns ein paar Schweinehund-Namen?
Dieses Zitat hat ein paar Jahre auf dem Buckel, und ich weiß nicht, ob es noch gültig ist. Die Literatur hat sich in den letzten Jahren politisiert, wie andere Lebensbereich auch, fast notgedrungen: Die großen Krisen Klima, Krieg und Pandemie kann niemand ignorieren.
Aber zu den Schweinehunden: Unsere Literatur, gerade die Klassiker, das, was man früher Kanon genannt hat, trägt ein schweres Erbe. Die Auseinandersetzung hat gerade erst begonnen. Und es sind für mich nicht nur Namen. Es sind Erfahrungen, die schmerzhaft bleiben. Das Werk des amerikanischen Lyrikers Ezra Pound war für mich als junger Mensch literarisch ein wesentlicher Bezug. Dostojewskis Romane habe ich verschlungen. Kleist hat die deutsche Sprache in neue Dimensionen geführt. Hamsun, Céline, Benn – ich glaube nicht, dass ich mit einem dieser Herren meinen Urlaub hätte verbringen mögen. Fällt mir eine Frau ein, die mich literarisch geprägt hat und die ich politisch ablehne? Ich glaube nicht. Warum ist das so? Was sind die Gründe dafür? Hier gibt es viel zu tun, zu denken, zu streiten.

Lukas Bärfuss

Lukas Bärfuss

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und streitbarer Publizist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, die Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Für seine Werke wurde er u.a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Schweizer Buchpreis und dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

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