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Kein Mensch will die Wahrheit

Was sich aus einer Lüge lernen lässt: Der große Essay der Philosophin Bettina Stangneth

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Alle Menschen lügen, behaupten die Menschen. Aber auch diejenigen, die das Lob der Lüge singen, wollen nicht bei einer erwischt und noch weniger wollen sie belogen werden. Sogar wenn man im Lügen das Leben selbst oder doch eine notwendige Kulturtechnik sehen will – wir gewöhnen uns einfach nicht an sie. Wenn Menschen sich nicht an etwas gewöhnen können, das sie doch selber gelegentlich tun, dann nennt man das ein moralisches Problem. Wer über Moral spricht, meint damit gern die anderen. Darum ist es auch kein Zufall, dass uns der Lügner von Anbeginn fasziniert. Für die Hochstapler, Schwindler und Populisten ist die Lüge ist nur eines ihrer Werkzeuge. Als wäre sie nur dann eine Waffe, wenn sie in die falschen Hände gerät. Aber ist das wirklich alles? Und dürfen wir die philosophische Frage nach der Lüge tatsächlich auf Moral und Politik beschränken?

Süddeutsche Zeitung: «Mag sein, dass die Lektüre kein Spaziergang ist, doch sind es nicht gerade die kräftezehrenden Wanderungen, die einen beglückt zurücklassen?»
F.A.Z.: «Ein Buch, das wunderbar altmodisch und dabei zeitlos-zeitgemäß ist. Bettina Stangneth philosophiert einfach, wie man dies von früher kennt: mit existentieller Eindringlichkeit, nah an den großen Fragen des Lebens, mit der Kraft des klärenden Worts und sprachlicher Eleganz.»

Zur Autorin: Bettina Stangneth studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Für ihr Buch «Eichmann vor Jerusalem» erhielt sie 2011 den NDR-Kultur-Sachbuch-Preis; die New York Times zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschien zuletzt ihr hochgelobter Essay «Böses Denken».

Über «Böses Denken» (2015)

Die Welt: «Ihr Buch ist eine Einladung zum Denken – zum konsequenten Denken, was heißt: zum Denken mit moralischen Konsequenzen. Es ist deshalb vielleicht die wichtigste Neuerscheinung des Jahres.»
F.A.Z.: «Das Buch ist glänzend geschrieben und provoziert mit Witz wie bitterem Ernst. Es löst, indem es Vernunft auf die Maxime einer umfassenden Stimmigkeit, die es stets zu prüfen gälte, festlegt, nicht alle Probleme, die es anspricht. Aber es zwingt uns ausdrücklich, und zwar Philosophen wie Nichtphilosophen gleichermaßen, in jene Abgründe hineinzublicken, die der Programmbegriff ‹Aufklärung› zu überbrücken sucht.» Der Tagesspiegel: «Bei dieser Kant-Interpretin schreitet Philosophie nicht als Meditation daher, sondern wirbelt die eigenen Gewissheiten auf. Eine herausfordernde Reflexion über das Böse, die aktueller nicht sein könnte.»

Zum Einlesen hier das Kapitel «Wahrheit als Luxus» aus dem «Jenseits der Macht» überschriebenen dritten Teil von Bettina Stangneths neuem Essay:

Wahrheit als Luxus

«Wahrhaftig sein zu dürfen, ohne Schaden befürchten zu müssen, ist ein Vorrecht der Macht, der Mächtigen – und auch dann immer noch beschränkt – oder der glücklichen Zufallssituation oder die mögliche Würde der völligen Ohnmacht.» Karl Jaspers, deutscher Philosoph, Von der Wahrheit (1947)

«Es ist grotesk. Wir fordern unsere Mitmenschen auf, bei der Wahrheit zu bleiben, sagen jedermann, wie sehr es heute ‹ums Authentische› gehe, und wenn irgendwer diese Aufforderung dann für eine Wahrheit nimmt, finden wir ihn nicht mehr gesellschaftstauglich. Wer sagt, was wir lieber nicht hören wollen, muss draußen bleiben. Nur beim ersten Mal nimmt man den Naivling zur Seite und lässt ihn mit dem strengen Tadel davonkommen, dass man es doch auch etwas anders hätte sagen können. In einem anderen Ton vielleicht? Am liebsten aber gar nicht? Wenn wir nicht Menschen wären, niemand könnte uns erklären, was dieser Unsinn soll. Wir hingegen lernen dieses Spiel schon als Kinder durch Anpassung, das heißt, wir tanzen es schon lange mit, bevor das Niveau unseres Denkens ausreicht, um zu verstehen, was genau hier passiert, und nicht wenige stümpern sich ein Leben lang so durch, weil Momente spielerischer Leichtigkeit nur in absoluter Oberflächlichkeit oder aus der Virtuosität des Spielmeisters gelingen können. Wer nicht galant über jedes Eis gleiten kann und auch nicht weiß, wo die brüchigen Stellen sind, bricht notwendig ab und an ein und kann sich doch nicht für das Ufer entscheiden, also dafür, die Gesellschaft ganz zu meiden, weil man ihre grausam-launische Verlogenheit nicht will.

Denn natürlich kann jeder, der die Wahrheit über das sagen möchte, was er denkt und fühlt, genau das auch immer und überall tun, sobald er spricht. Die Frage ist allein, welche Konsequenzen das nach sich zieht und wie lang sich noch Menschen in seine Nähe wagen. Als Therapievorschlag gegen die gelegentlich doch auftauchende Frage, ob diese Rituale nicht zu viel Zeit kosten, die man lieber mit guten Gesprächen verbringen könnte, gilt gewöhnlich der Vorschlag, sich zu überlegen, wie der eigene Tag verlaufen würde, wenn man sich einmal alles zu sagen traute, was einem so durch den Kopf geht. Mit anderen Worten: Man empfiehlt uns das sehr dünne Eis und nicht weniger als die lebhafte Vorstellung, in jedes mögliche Loch zu fallen, wie es der ein oder andere Tölpel tut, über den wir gewöhnlich lachen. Da Angst vor der Einsamkeit meist stärker ist als der gelegentliche Ärger über das eigene Unverständnis für die Verlogenheit der Gesellschaft, hat sich die Therapie ganz gut bewährt. Wie viele Menschen einen solchen Tag dennoch gern einmal ausprobieren, also Amok laufen möchten, gehört auch zu den Dingen, über die wir lieber nichts Genaueres wissen wollen. Falls es dennoch einer tut, ist die Oberfläche danach so schnell und wie von Zauberhand geglättet, dass vom Rasenden nichts übrig bleibt als der Name für ein schlechtes Beispiel.

Es gab eine Zeit, in der jede Verstoßung aus der Gemeinschaft den eigenen Tod bedeutete, weil die Dörfer klein und die Wildnis drumherum noch wild war. Wer flüchtete, so erzählte man es wenigstens den anderen, kam dem Bann und seinen Folgen nur zuvor. Ihn fraßen, natürlich, die Wölfe. Es gehört zum gar nicht genug zu preisenden Vorzug einer liberalen Gesellschaft, dass sie zumindest ein gewisses Maß an Lügen-Allergikern erträgt und Nischen zulässt, in denen auch derjenige sich nicht ganz unnütz fühlen muss, dem das Spiel der Konventionen nicht gelingen oder dem es einfach nicht gefallen will.

Aber bekanntlich herrschen nicht überall liberale Verhältnisse. Karl Jaspers, der vermutlich ehrlichste Philosoph seit Immanuel Kant, lernte die Lüge in einer Zeit anzuerkennen, in der es nur noch den rechten Weg gab, aber keinen, den er richtig gefunden hätte. Jaspers’ Frau stammte aus einer jüdischen Familie, er hatte ihr versprochen, sie nie zu verlassen, bezahlte dafür bewusst mit dem Verlust der öffentlichen Stimme und verzichtete auf die Verlockungen des gesicherten Lebens als staatlicher Professor für Philosophie, auch wenn das bedeutete, dass ihn die meisten Kollegen mieden. Solange es ging, nutzte er die Zeit, eines der größten Werke der Philosophie zu schreiben, und konnte nur hoffen, dass es überhaupt je erscheinen würde. Von der Wahrheit hat über tausend Seiten. Es enthält auch das aufrichtige Zugeständnis, dass es Länder und Systeme gibt, in denen Unwahrheit Lebensbedingung ist: ‹Wer in glücklicher Situation davor geschützt ist, dieses handgreiflich zu erfahren, und wem es so gestattet wurde, sein Leben lang ohne Lüge auszukommen, der würde selbst unwahrhaftig sein, wenn er sich verschwiege, daß das nur dadurch möglich wurde, daß Andere für ihn unwahrhaftig waren, d. h. diejenigen, durch deren Handlungen sein Dasein und dessen Bedingungen verwirklicht wurden und aufrechterhalten werden.› Jeder, der in einer Diktatur die Stimme erhebt und sagt, was ist, gehört zweifellos zu den Mutigen, denen unsere Bewunderung zurecht gehört. Aber überleben werden sie nur, solange andere bereit sind, sie im Zweifel zu verstecken. Karl Jaspers und seine Frau Gertrud nahmen sich ein Leben lang übel, nicht zu den Mutigen gehört zu haben, und verpflichteten sich gegenseitig, diesen Fehler nie zu wiederholen, nicht zuletzt als Dank und aus Bewunderung für all jene, die den beiden Unterschlupf gewährt hatten, als die Deportation anstand, und die dafür selber alles riskierten. Unser Wissen, dass Aufrichtigkeit auch tödlich sein kann und doch die einzige Chance für eine Besserung der Verhältnisse ist, bedeutet immer auch die Anerkennung, dass es zu den Aufgaben des Menschen gehört, unter unwahren Bedingungen unwahr zu sein. Die natürlichen Gelegenheiten zur Wahrhaftigkeit sind rar. Wer mehr als das will, muss sich die Wahrheit leisten können.

Auch wenn die Höhe des Preises von den politischen Verhältnissen abhängt, lässt sich doch immerhin erklären, warum er immer wieder fällig wird. Wahrheit gefährdet nicht nur die Herrschaft der Diktatoren, weshalb sie in ihr auch sofort den Feind erkennen. Wahrhaftigkeit durchkreuzt jedes Machtverhältnis und damit auch diejenigen, die in der Lüge wirklich sind. Wer die Wahrheit sagt, wo alle anderen sich stillschweigend auf anderes geeinigt haben, legt unvermeidlich Machtverhältnisse bloß und mehr als das. Da diese Macht sich unausgesprochen verbreitet, also ohne das Prinzip der Täuschung nicht bestehen könnte, bedeutet ihr Benennen gleichzeitig ihr Ende. Noch die ganz unbedarft ausgesprochene Wahrheit ist immer der Spiegel, der auch die Lüge als genau das zeigt, was sie ist. Uns unvermutet einen Spiegel hinhalten, das dulden wir nur bei Kindern und den Narren.

Wer von Konventionen spricht und damit die vielen Fettnäpfchen meint, in die der eine ungestraft treten darf und der andere nicht, untergräbt schon damit die Autorität jener, die über Privilegien verfügen. Es ist daher nicht von ungefähr ein Testverfahren, die eigene Macht an dem offenen Aufruf zum Mitlügen zu erproben. Als Außenstehender übersieht man es leicht und lacht vielleicht sogar über einen vermeintlichen Deppen, der ein schwarzes Schild hochhält und dennoch ernsthaft verkündet: Ihr seht doch auch alle, dass es weiß ist! Bevor wir lachen, empfiehlt es sich allerdings abzuwarten, wie viele ihm zustimmen. Es geht nämlich nicht immer um eine neue Farbenlehre oder gar das Umschreiben der Geschichte. Wer seine Macht testen und damit auch beweisen will, hat schließlich gar nicht vor, jemanden zu belügen, und handelt auch keineswegs unklug. Wir sind mit dem Lügen als Werkzeug meist schon so gefordert, dass uns die Souveränität zum Perspektivenwechsel fehlt. Was hier geschieht, ist nicht Lügen, sondern die Aufforderung zur Lüge. Es ist die einzig wahre Inauguration: Der Lügner fordert vor den Augen der Welt dazu auf, bewusst das Unglaubliche zu glauben und damit die Machtkonstitution öffentlich zu vollziehen, die durch kein Symbol und keine Feierlichkeit je zu erreichen wäre – aber nun einmal auch durch keine Wahrheit. Denn Menschen, die sich dem Wahren verpflichten, bekennen sich zur Welt, also dem, was wir gemeinsam haben, weil wir uns alle in ihr zu orientieren versuchen. Menschen aber, die dem Aufruf folgen, eine Lüge zu konstituieren, verpflichten sich einem einzigen Menschen. Wenn Wahrheit ist, was uns verbindet, dann ist Lüge das, worin wir uns freiwillig aneinander ketten. Das nimmt nicht etwa dem Volk den Kompass, wie Hannah Arendt meinte, es ist vielmehr die gemeinsame Entscheidung, die Nadel neu auszurichten. Bei einem Autokraten reicht es vollkommen, ihm seine Mittel wegzunehmen, mit denen er die Untertanen einschüchtert, weil dann jeder sofort Gewalt ausüben kann, der sie in seinen Besitz bringt. Da bekanntlich auch der gewaltigste König einmal schlafen muss, genügt ein günstiger Moment, um ihn zu entwaffnen. Wenn aber die Gewalt vom Volke ausgeht, gibt es für den, der es anführen kann, nur noch die Macht, die man ihm einräumt, also einen Vertrag auf Gegenseitigkeit. Wir tun gut daran, nicht zu vergessen, dass die Lüge im Wesentlichen ein solcher Vertrag ist.

Allen Befürchtungen zum Trotz ist die Welt bisher nicht in der Lüge versunken, und man braucht auch keine Glaskugel, um vorherzusagen, dass sie das auch in Zukunft nicht tun wird. Lügen ist nur als Ausnahme von der Regel erfolgreich, und wenn wirklich einmal jemand auf die Idee käme, eine Gemeinschaft auf der Pflicht zum Lügen zu begründen, wäre das Resultat allenfalls Dichtung. Menschen suchen die Wahrheit nicht etwa, weil sie es gern wollen, sondern weil sie es müssen. Ohne die Wahrheit kämen wir nicht zurecht in einer Welt, die jeden Einzelnen überfordert. Wo es ohne Kooperation nicht geht, weil die Welt nun einmal für das Stellen der Machtfragen nicht empfänglich ist, wie jeder weiß, der schon einmal einem Vulkan das Ausbrechen verbieten wollte, kommen wir ohne Absprachen nicht aus. Selbst ein Volk von Teufeln, heißt es bei Immanuel Kant, muss das Problem der Staatserrichtung lösen, und noch die kleinste Gemeinschaft kommt nicht ohne Regeln zum Umgang mit der Wahrheit aus. Auch das Lügen muss sich an der Wahrheit orientieren, wenn es eine Wirkung in der Welt hervorbringen will, so wie auch ein Traum realistisch genug sein muss, um uns zu erschrecken. Es besteht also kein Anlass, mit einem ‹postfaktischen Zeitalter› zu rechnen, nur weil wir die von uns geschaffene Realität von Straßenschildern, Büchern und Fotos inzwischen durch die Möglichkeit zur internationalen Vernetzung erweitert haben. Augmented reality ist seit jeher das, was Menschen tun, wenn sie Zeichen setzen. Wer’s mit dem Lügen allzu bunt treibt, wird zuverlässig von der Wirklichkeit geweckt, an der sich alles bewähren muss, was wir wagen.

Lügen ist ein Werkzeug zu allerlei Zwecken. Es ist nicht zuletzt die Fähigkeit, uns selbst zu verbergen und der Zudringlichkeit von Menschen zu entziehen, die uns näher kommen wollen, als wir sie gern hätten. Auch lässt sich schwerlich Erziehung denken ohne sie, denn ein Kind in voller Naivität auf die Welt loszulassen, wie sie ist, widerspricht jeder Klugheit, wenn man nicht große Freude daran verspürt, jemand noch mehr scheitern zu sehen, als man es selber erlebt.

Selbst beim Belügen in bester Absicht bleibt der Zweifel, der für Rudolph Zacharias Becker im Jahr 1781 das stärkste Argument gegen den Gedanken war, ein Volk zu seinem Wohle zu belügen: «Man sezze hierzu, (…) daß ein Irrthum, der in dem Geiste einmal Wurzel geschlagen hat, und in das Gedankensistem des Menschen verwebt ist, in seinem Einflusse nicht mehr auf diese oder jene Art der Gesinnungen und Neigungen eingeschränkt werden kann.» Unsere Fertigkeit zu lügen ist wie jedes Werkzeug, das in eine komplizierte Mechanik eingreifen muss, um sie anders auszurichten, nur schwer und oft gar nicht zu kalkulieren. Natürlich fühlt es sich gut an, wenn wir uns die Regel ausdenken, dass eine Lüge immer gerechtfertigt sei, wenn wir damit garantiert ein Menschenleben retten können. Es ist nur so, dass es Garantien dieser Art nicht gibt, weil die Mechanik, von der wir reden, nun einmal keine ist, wenn wir von menschlichem Handeln reden. Wenn wir aber schon in der Welt noch mit der freundlichst gemeinten Lüge Unheil anrichten können, was bewirkt sie dann im Denken? Können wir wirklich ausschließen, dass das, was als gelegentliche Lüge beginnt, am Ende alles durchwirkt? Oder müssen wir vielleicht sogar fürchten, dass die Lüge der Anfang von allem war?»

Bettina Stangneth, geboren 1966, ist unabhängige Philosophin. Sie studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Für ihr Buch «Eichmann vor Jerusalem» erhielt sie 2011 den NDR-Kultur-Sachbuch-Preis; die «New York Times» zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschienen zuletzt ihre hochgelobten Essays «Böses Denken» (2015), «Lügen lesen» (2017) und «Hässliches Sehen» (2019) sowie die Bände «Sexkultur» (2021) und «Überforderung» (2022). Stangneth erhielt 2022 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis.

Zur Autorin Zu den Büchern

Lügen lesen

Die Rückseite der Lüge.
Alle Menschen lügen, behaupten die Menschen. Aber auch diejenigen, die das Lob der Lüge singen, wollen nicht bei einer erwischt und noch weniger wollen sie belogen werden. Sogar wenn man im Lügen das Leben selbst oder doch eine notwendige Kulturtechnik sehen will – wir gewöhnen uns einfach nicht an sie. Wenn Menschen sich nicht an etwas gewöhnen können, das sie doch selber gelegentlich tun, dann nennt man das ein moralisches Problem. Wer über Moral spricht, meint damit gern die anderen. Darum ist es auch kein Zufall, dass uns der Lügner von Anbeginn fasziniert. Die Hochstapler, Schwindler und Populisten, sie scheinen uns wie Zauberer zu manipulieren und planmäßig in die Irre zu führen. Die Lüge ist nur eines ihrer Werkzeuge. Als wäre sie nur dann eine Waffe, wenn sie in die falschen Hände gerät. Aber ist das wirklich alles? Und dürfen wir die philosophische Frage nach der Lüge tatsächlich auf Moral und Politik beschränken? Die Philosophin Bettina Stangneth, die ihre Leser schon mit dem Buch Böses Denken auf überraschende Wege zu großen philosophischen Fragen eingeladen hat, stellt in ihrem neuen Essay weitere, ganz einfache Fragen: Was lässt sich aus einer Lüge über unser Denken lernen? Steckt Wissen in der Unwahrheit? Und wie kommt man an dieses Wissen heran?

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Böses Denken

Die Philosophin Bettina Stangneth, die mit ihrem Buch über den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann («Eichmann vor Jerusalem») international die Debatte über das Böse neu entfacht hat, stellt eine unbequeme Frage: Haben wir wirklich das Recht zu jedem Gedanken oder braucht auch das Denken eine Ethik?
Die Gedanken sind frei und jeder, der selber zu denken lernt, wird so frei werden wie sie. Das glauben wir jedenfalls. Weil wir fest davon überzeugt sind, dass es einen Zusammenhang zwischen Denken und Moral gibt, fordern Philosophen seit dem 18. Jahrhundert dazu auf, alles zu bedenken, eigene Überzeugungen zu entwickeln und konsequent danach zu handeln. Wer denkt, so hoffen wir, der mordet nicht. Wer aufrichtig seinen Überzeugungen folgt, macht die Welt besser. Aber dann kam das 20. Jahrhundert und mit ihm der organisierte Massenmord, die Tat der denkenden Mörder. Und es kamen die Selbstmordattentäter, die alles andere als gedankenlos sind und dennoch töten.
Dieser elegant geschriebene Essay erklärt und erweitert klassische Konzepte des Bösen, denn wer das Böse bekämpfen will, muss es zunächst einmal erkennen. Es kommt schon lange nicht mehr nur als dummer Barbar, sadistischer Schläger oder gedankenloser Bürokrat daher, sondern mit verführerisch schlüssigen Argumenten. So sehr wir es uns auch gewünscht haben: Für uns Menschen ist nichts jenseits von Gut und Böse. Noch nicht einmal das Denken.

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