Im Gespräch

«Lehrer sind keine Lerncoaches»

Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?

Jürgen Kaube, Herausgeber und Bildungsexperte der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» sowie Vater von zwei Töchtern, formuliert eine provokante These: Die Schule, wie sie jetzt ist, ist eine Fehlkonstruktion. Sie bringt den Kindern oft nur bei, was diese weder brauchen noch verstehen – und umgehend fast komplett wieder vergessen. Schlimmer noch: Die Schule reagiert dabei viel zu stark auf immer neue Anforderungen, die von außen an sie gestellt werden. Die Digitalisierung des Klassenzimmers ist genauso Unsinn, wie es die Rechtschreibreform oder das Sprachlabor waren.
Dieses Buch steht quer zur bisherigen Bildungsdebatte und jenseits des Schemas von links und rechts, konservativ und progressiv. Es ist ein vehementes Plädoyer dafür, die Bildung unserer Kinder von unsinnigen Zwängen zu befreien und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Kinder sollen denken lernen, darum und nur darum geht es in der Schule.

DAS INTERVIEW

Wenn Sie mit dem Wissen und der Erfahrung von heute zurückblicken: Wie war Ihre eigene Schulzeit? Zumindest einen großartigen Philosophieunterricht scheinen Sie genossen zu haben ...
Alles in allem denke ich gerne an meine Schulzeit zurück. In Deutsch, Biologie, Mathematik, Latein, Religion und Philosophie hatte ich sehr eindrucksvolle Lehrer. Es gab Lehrer, die einem Bücher empfahlen oder die Musik Franz Schuberts oder die einem zeigten, was Nachdenken heißt, oder die mit uns sehr ernsthaft diskutierten. Aber auch an den weniger guten Lehrern, die sich selbst im Unterricht langweilten, lernte man etwas: nämlich sie kennen und den Unterschied zwischen klugem und weniger klugem Unterricht. Schule ist ganz wesentlich ein Gespräch der Schüler über die Lehrer, aber nur, wenn die Lehrer Stoff für solche Vergleiche hergeben und den Schülern nicht egal sind. Was die offiziellen Ziele der Schule angeht, so fand ich, da ich früh gerne las, es natürlich großartig, dass man dafür auch noch über das Vergnügen an Büchern hinaus belohnt wurde.


«Weg mit den Lehrplänen!», lautet ein Satz in Ihrem Buch. Ihr Zorn richtet sich gegen grotesk überfüllte Curricula, die «immer umfangreicher, redseliger und törichter» daherkommen – «in ihrer jetzigen Form die dümmsten Textsorten, die es im gesamten Schulsystem gibt». Wo soll man da ansetzen angesichts von 16 Bundesländern mit tendenziell 16 schulpolitischen Strukturen und entsprechendem theoretischem Überbau?
Die Schule sollte streng im Bereich des Elementaren sein: Deutsch und Mathematik. Sie sollte sich aber auch Zeit nehmen, hier allen ein Basiskönnen zu vermitteln. Dafür würde ich leichten Herzens Frühenglisch, das ausgedehnte Auswendiglernen der Mittelgebirge und der Innereien von Fischen opfern. Das ganze Gerede der Lehrpläne, die Schüler müssten von der Grundschule an geographische, politische oder historische «Kompetenz» erlangen, ist Augenwischerei.
Überhaupt nichts gegen die entsprechenden Fächer, aber man gebe doch den Lehrkräften die Freiheit, sie interessant zu unterrichten und nicht bloß auf Prüfungen hin, die vor allem Stoff abfragen, in denen also das Kurzzeitgedächtnis getestet wird. Man merkt sich am besten, was einen zum Nachdenken anregt, was einem Verstehen abverlangt und was zum eigenen Alter passt. Was soll es also, Zehnjährige Referate halten zu lassen, wo sie doch noch gar nichts wissen, nur damit sie angeblich «Vermittlungskompetenz» erlangen? Sie fragen, wo man da ansetzen soll? Nun, wir leben in einer Demokratie, die Parteien müssten sich nur entschließen, lokale Freiheit zu gewähren und ministerialbürokratischen Unfug zu beenden.


Mit Vehemenz argumentieren Sie gegen reformpädagogischen Dilettantismus wie das Methodentraining nach Heinz Klippert («eine besonders dramatische Art, den Unterricht zu verblöden») oder das Schreiben nach Gehör (Anlauttabelle nach Jürgen Reichen), das jede Menge phonetischer «Iegel» produziert und nur schwer aus den Kinderköpfen wieder rauszukriegen ist. Wie verbreitet sind im aktuellen Schulbetrieb derlei dogmatische Irrwege?
Sehr verbreitet, ich gebe in meinem Buch viele Beispiele. An den Universitäten hecken Didaktiker und andere Pädagogen ständig neue «Tricks» aus, die sich in der Praxis nicht bewähren, aber über die Lehrerausbildung ihren Weg in die Schulen finden. Die Weiterbildungsindustrie inklusive der Schulbuchverlage ist auch sehr aktiv. Nicht zuletzt die Vorstellung, Lehrer sollten sich im Unterricht stark zurückhalten, bloße «Lernbegleiter» sein und es den Schülern überlassen, sich das Wissen – aus Arbeitsblättern oder aus dem Internet – zu holen, ist weit verbreitet. Der letzte Schrei ist jetzt «individualisierter Unterricht mittels Lernsoftware», auch so ein Versprechen, um einen instruktiven Unterricht für die ganze Klasse herumzukommen. Es gibt aber keine technischen Lösungen der pädagogischen Aufgabe, die Autorität der Lehrperson lässt sich nicht ersetzen. Oder nur um den Preis scheiternden Unterrichts.


Bildungskatastrophe, Erziehungsnotstand, PISA-Schock, digitale Demenz: Mit «freihändig entwickelten Trenddiagnosen» und wilden Übertreibungen, mit einem Mix aus Untergangs- und Rettungsvokabular wird die konkrete Diskussion über das, was falsch läuft an unseren Schulen, verhindert. Wie könnte eine sachliche, ernsthafte, tiefgehende Bildungsdebatte aussehen? Wer soll sie führen, wo soll sie geführt werden?
Eine sinnvolle Diskussion über die Schule setzt eine Anschauung von ihr und ihren Problemen voraus. Und einen Begriff von ihren praktischen Möglichkeiten. Fast alle müssen beispielsweise zugeben, das allermeiste, was angeblich gelernt wurde, wieder vergessen zu haben. Was aber folgt daraus? Bildungspolitisch bislang nichts. Die Behauptung, eine richtig eingerichtete Schule würde Bildungsaufstieg für alle ermöglichen oder den Wirtschaftsstandort sichern, geht ebenfalls an der Wirklichkeit der Schule und der Gesellschaft vorbei. Wollte man ernsthaft über die Schule diskutieren, müssten solche Phrasen abgeräumt werden. Und eine Diskussion über Schulen wäre desto ertragreicher, je konkreter die Fragen sind, die sie behandelt. Man sollte sie mit den Schulen und den Lehrkräften führen, und diese müssten die Handlungsspielräume haben, aus einer solchen Diskussion auch Konsequenzen vor Ort ziehen zu dürfen.


Sie sagen: «Schule ist Arbeit und Schülersein ein Beruf. Lehrer sind keine Lerncoaches», sondern Autoritäten der Wissensvermittlung. Aufgabe der Schule sei die Entwicklung von Freude am selbständigen Denken samt Fördern von Sekundärtugenden wie Improvisationslust, Teamgeist, Disziplin, rhetorischem Feuer ... Ist das, was Sie mit «Rückbesinnung aufs Kerngeschäft» meinen, in der heutigen Bildungslandschaft tatsächlich eine krasse Minderheitsposition?
An den Schulen selbst mag es viele geben, die auch so denken. Aber wenn ich lese, was viele Erziehungswissenschaftler zum Besten geben und was den Schulen seitens der Bildungspolitik alles an Aufgaben zugemutet wird, habe ich Zweifel, ob die Rückbesinnung auf das Kerngeschäft schon mehrheitsfähig ist.


Es gibt diesen wunderbaren Satz in Ihrem Text: «Die Frage, warum sie das machen, was sie machen, entlockt vielen Schülern das Achselzucken unterworfener Völkerschaften.» Haben Sie sich beim Schreiben Ihres Buches nicht häufig gefragt, wie wohl Sie als Lehrer in diesem System und mit diesen unterworfenen Völkerschaften klarkämen?
Wer nicht vor einer Klasse steht, ja vor mehreren täglich, sollte sich hier nicht in die Brust werfen. Es gibt keinen Unterricht, der durchweg gelingt und alle erreicht. Und Unterrichten ist eine Praxis, die stark von Personen und ihrer Wahrnehmung durch die Schüler abhängt. Man mag sich einreden, das zu können, aber wer weiß? Andererseits glaube ich sehr daran, dass es möglich ist, den Sinn der Beschäftigung mit schwierigen Dingen, Problemen, Rätseln, Weltausschnitten zu vermitteln. Und zwar auf jedem Leistungsniveau. Man muss es nur wollen, aufgrund von eigener Anstrengung (Bildung) können – und man muss es dürfen.


Kleine Deus-ex-Machina-Vision: Wären Sie politisch wie budgetär in der Lage, fünf Dinge im deutschen Bildungssystem nachhaltig zu verändern – welche wären das?
– Es wäre sinnvoll, wenn wir gute Studenten überzeugen könnten, dass der Lehrberuf vielleicht lohnender ist als beispielsweise ein Leben in Drittmittelprojekten. Dazu müsste man ihnen vielleicht nur das Lehramtsstudium dadurch attraktiv machen, dass man es von vielem fachdidaktischen und erziehungswissenschaftlichen Unfug befreit, und zugleich Mittel von der Forschung in eine universitäre Lehre umlenken, die in allen Disziplinen den Schulunterricht stärker im Blick hätte.
– Hauptschullehrer müssten besser bezahlt, Hauptschulen besser ausgestattet werden, nicht zuletzt mit Sozialarbeitern. Unterbleiben sollten Vorgänge wie der in Berlin, wo ein Hauptschuldirektor Probleme bekommt, weil er seine Schule auf Vordermann gebracht hat, nur eben ohne das Abarbeiten reformpädagogischer Wunschlisten der Aufsichtsbehörde. Wer heilt, hat recht, heißt es in der Medizin – das müsste analog auch für die Schule gelten.
– Weniger Fächer, nicht mehr. Dafür bis zur sechsten oder siebten Klasse ein Unterricht, der auf Lesen, Schreiben, Rechnen konzentriert ist.
– Und danach mehr lokale Freiheit, worauf sich eine Schule im Bereich der anderen Fächer konzentrieren möchte. Überhaupt mehr lokale Freiheit: eigene Schulbudgets, eigene Personalpolitik, höhere Entscheidungskompetenz in Bezug auf die eigene Struktur und das schulische Angebot.
– PISA ignorieren, es ist die uninformativste Studie über Schulen, die es gibt.

Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?

Jürgen Kaube ist Herausgeber und Bildungsexperte der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» – und Vater von zwei Töchtern. Aus dieser doppelten Erfahrung heraus formuliert er eine provokante These: Die Schule, wie sie jetzt ist, ist eine Fehlkonstruktion. Sie bringt den Kindern oft nur bei, was diese weder brauchen noch verstehen – und zuverlässig fast komplett wieder vergessen. Schlimmer noch: Die Schule reagiert dabei viel zu stark auf immer neue Anforderungen, die von außen an sie gestellt werden. Die Digitalisierung des Klassenzimmers ist genauso Unsinn, wie es die Rechtschreibreform oder das Sprachlabor waren.
Was jetzt gebraucht wird, sagt Kaube, ist eine Reduktion auf das Wesentliche: Kinder sollen denken lernen, darum und nur darum geht es in der Schule. Heute bringt sie ihnen vor allem bei, was leicht abgefragt werden kann. Und das ist das genaue Gegenteil von denken lernen, Urteilskraft und Weltverständnis. Daraus leitet Kaube ebenso klare wie unbequeme Forderungen ab, die die Bildung unserer Kinder von unsinnigen Zwängen befreien.
Jürgen Kaube legt ein Buch vor, das quer steht zu der bisherigen Bildungsdebatte, nicht einzuordnen ist in ein Schema von links und rechts, konservativ und progressiv. Ein Plädoyer für eine Schule, die wirklich schlau macht.

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Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. «Hegels Welt» wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis als Sachbuch des Jahres 2021 ausgezeichnet.

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