Ausgezeichnet

Preis der Leipziger Buchmesse 2012 für Wolfgang Herrndorf und Christina Viragh

Am 15. März 2012 wurde zum achten Mal der Preis der Leipziger Buchmesse vergeben. Im Bereich Belletristik wurde Wolfgang Herrndorfs Roman «Sand» ausgezeichnet, für ihre Übersetzung von Peter Nadas' «Parallelgeschichten» bekam Christina Viragh den begehrten Preis.

Aus der Begründung der Jury: Kategorie Belletristik: Wolfgang Herrndorf «Sand»

Es gibt bestimmt Romane, deren Handlung sich leichter zusammenfassen lässt als die von Wolfgang Herrndorfs «Sand». Sicher ist folgendes: Die Geschichte spielt Anfang der 70er Jahre, sie spielt in Afrika, in brüllender Hitze, und in ihrem Zentrum steht ein Mann, der sein Gedächtnis verloren hat. Nicht einmal seinen Namen weiß er noch - als ihn jemand Carl nennt, ist er einverstanden. Carl, den wir blutüberströmt und mit einer Kopfverletzung kennenlernen, wird von mysteriösen Gestalten verfolgt, die er nicht kennt. Er wird gefoltert und weiß nicht, warum. Man will irgendetwas von ihm, aber er weiß nicht, was. Um sein Leben zu retten, verspricht er, es zu besorgen, was auch immer es ist - und von da ab kommt es eigentlich immer nur noch schlimmer. Er gerät von einer ausweglosen Situation in die nächste, was immer er auch beginnt, endet in einer Sackgasse. Eine geheimnisvolle blonde Frau namens Helen spielt womöglich ein falsches Spiel mit ihm. Dubiose Polizisten tauchen auf und verschwinden wieder. Das Buch liest sich spannend wie ein Agenten-Thriller. Nie lässt sich vorhersagen, wie die Handlung hinter der nächsten Kurve weitergehen wird, wer oder was dem Helden als nächstes übel mitspielen wird. Im Grunde handelt «Sand» von der Sinnlosigkeit jeglichen Tuns und von Vergeblichkeit. Es kommt ja eh immer anders, als man denkt. Was diesen Roman so einzigartig macht, ist, mit welcher Leichtigkeit, welcher Eleganz im Ton und welchem Sinn für Komik auch Wolfgang Herrndorf diese absolute Alptraumszenerie erzählt. Man folgt diesem Erzähler gerne und in blindem Vertrauen in die abstrusesten Situationen. Lässt sich von ihm auf verwirrende, immer aber schillernde Abwege führen. Tappt mit seinem Helden zusammen im Dunkel von dessen Identität und brennt darauf, alle Puzzleteile endlich zusammenzufügen, von denen lange nicht klar ist, ob und wie sie sich zusammenfügen lassen. Was das Vergnügen umso größer macht, wenn sie es letztlich tun. Und ist bei all diesem Irrsinn und den Turbulenzen beim Lesen allerbestens unterhalten. Im vergangenen Jahr war hier schon ein Roman von Wolfgang Herrndorf nominiert: «TSCHICK». Nun zu behaupten, dieses neue Buch sei erwachsener, wäre zu einfach - und es wäre auch falsch. Es ist ein vollkommen anderes, andersartiges Werk - und das zeigt eben auch, was für ein großer Erzähler dieser Autor ist.

Kategorie Übersetzung: Aus dem Ungarischen von Christina Viragh Péter Nádas: «Parallelgeschichten»

Zur Begründung: «Wir werden geboren, quälen uns ab, dann sterben wir. C’est tout.» Das sagt eine Figur in Peter Nadas' «Parallelgeschichten». Es ist auch ein bisschen das Fazit dieses großen Romans, den wir, indem wir Christina Viragh den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte Übersetzung verleihen, ja auch mit auszeichnen. Womit zugleich ein hermeneutisches Problem angesprochen ist, das die Arbeit der Jury in der Übersetzersparte prägt und manchmal auch quält. Wir finden Péter Nádas' Roman großartig, können das aber nur finden, weil Christina Viragh ihn in großartiges Deutsch übersetzt hat. Das befinden wir aber ausschließlich auf der Basis des Ergebnisses - ihrer deutschen Fassung. Ein vertracktes Problem, das einen schnell zu dem Schluss führen könnte, die Arbeit der Übersetzerjury sei ohnehin unmöglich. Ja, das ist sie! Überdies, weil wir es hier nicht mit einer Übersetzung aus einer klassischen westeuropäischen Kultursprache zu tun haben, wo wir irgendwie noch mithalten können, sondern mit Ungarisch. Einer Sprache, so fremd, dass sogar Restaurant nicht Restaurant heißt! Diese Auszeichnung würdigt eine Leistung, die nicht zu trennen ist von den Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt. Da ist die schiere Länge des Romans: über 1.700 Seiten in der deutschen Ausgabe. Ein nicht gerade herzerwärmendes Buch, an dessen Lektüre man sich immer wieder nur mit Herzklopfen macht. Wie muss es erst der Übersetzerin gegangen sein, die ja noch viel tiefer eindringt als der Leser, bis ins schwarze Herz der Sprache! Dann die Ausgangssprache in ihrer synthetischen Struktur, die mehr Bedeutungselemente in das einzelne Wort hinein drängt als im Deutschen. In dieser Sprache schreibt Péter Nádas gewissermaßen eine synthetische Literatur. Bei ihm ist immer alles gleichzeitig da, das Vergangene und das Gegenwärtige, das Ausgesprochene und das Verschwiegene. Dass sich die «Parallelgeschichten» im Deutschen so dicht und elegant zugleich lesen, dass sich der Reichtum der Register, vom vulgären bis zum philosophischen Ton, erhalten hat, ja dass jede Person ihren eigenen Klang erhält in diesem grandiosen Sprachorchester - kurz, dass sich die «Parallelgeschichten» im Deutschen so lesen, wie man vermuten muss, dass sie im Ungarischen gewirkt haben: Das ist das Höchste, was man als Übersetzer erreichen kann. Dass sie das erreichen konnte, hat möglicherweise damit zu tun, dass Christina Viragh nicht nur in Ungarn geboren ist, sondern auch noch eine deutschsprachige Schriftstellerin. Die deutsche Leserschaft ist ihr zu tiefem Dank verpflichtet.

Sand

«Er aß und trank, bürstete seine Kleider ab, leerte den Sand aus seinen Taschen und überprüfte noch einmal die Innentasche des Blazers. Er wusch sich unter dem Tisch die Hände mit ein wenig Trinkwasser, goss den Rest über seine geplagten Füße und schaute die Straße entlang. Sandfarbene Kinder spielten mit einem sandfarbenen Fußball zwischen sandfarbenen Hütten. Dreck und zerlumpte Gestalten, und ihm fiel ein, wie gefährlich es im Grunde war, eine weiße, blonde, ortsunkundige Frau in einem Auto hierherzubestellen.»

Hier bestellen

  • Amazon
  • Genialokal
  • Hugendubel
  • Osiander
  • Thalia

Parallelgeschichten

Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten Buch der Erinnerung legt Péter Nádas sein Opus maximum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt.
1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach dem düsteren Geheimnis einer Familie. Es ist die Geschichte der Budapester Familie Demén und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Vergangenheit verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag am 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 und die Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin.
Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Story vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans jedoch bilden die Geschichten der Körper, die für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse werden. Der
männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Lebenswirklichkeit der Personen, sie sind das «glühende Magma», das «in der Tiefe ihrer Seele oder ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die Parallelgeschichten zur Explosion bringt.
Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den Parallelgeschichten ihre Vollendung finden.

Hier bestellen

  • Amazon
  • Genialokal
  • Hugendubel
  • Osiander
  • Thalia
Wolfgang Herrndorf

Wolfgang Herrndorf

Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren und 2013 in Berlin gestorben, hat ursprünglich Malerei studiert. 2002 erschien sein Debütroman «In Plüschgewittern», 2007 der Erzählband «Diesseits des Van-Allen-Gürtels». Es folgten die Romane «Tschick» (2010), «Sand» (2011), ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, sowie posthum das Tagebuch «Arbeit und Struktur» (2013) und der unvollendete Roman «Bilder deiner großen Liebe» (2014). 2023 wurde die Biographie «Herrndorf» von Tobias Rüther veröffentlicht.