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Widerborstig, hochpolitisch, hellsichtig: Friedrich Christian Delius’ neuer Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich»

Banner von Friedrich Christian Delius’ neuen Roman
© Brigitte Friedrich

Kassandra – den Spitznamen empfindet der kritische Wirtschaftsredakteur durchaus als Kompliment. Für ihn hat Journalismus keine Hofberichterstattung zu sein, er folgt lieber seinen Recherchen als den Pressesprechern der Ministerien und Konzerne. Dann wird er entlassen, mit Anfang 60. Auf die «sozialverträgliche» Tour zwar, aber: gefeuert, fallengelassen, kaltgestellt. Noch am selben Abend schreibt er weiter – nun im Tagebuch. Lena, seine 18-jährige Nichte, wird zur Adressatin der Aufzeichnungen. Sie, die einmal all die Fragen stellen könnte, die ihn selbst umtreiben: Wie war das damals im frühen 21. Jahrhundert, als Europa auseinanderbröselte? Als das «Griechenland-Desaster» Dauerthema war, aber nicht die internationale Bankenkrise? Und als alle zusahen, wie das totalitär regierte China das Gesicht der Welt veränderte ...

50 Jahre Verblödungsfernsehen können doch nicht umsonst gewesen

 

Eine große Überraschung war die Kündigung nicht: fristgerecht, zum Jahresende. Ein Schock schon, zwei Jahre vor dem offiziellen Rentenbeginn und fünf Tage nach der Bundestagswahl 2017. Es hatte Anzeichen für die «Freistellung» gegeben: Kassandra, der Schwarzseher, der ewige Kritikaster, der Mann von gestern – ein Störfaktor, nicht mehr kompatibel mit den modernen journalistischen Gepflogenheiten. «Meine Chefs stehen der Regierungspartei nahe, ich nicht. Sie hätscheln die Kanzlerin, die mit Ach und Krach wiedergewählte, ich nicht.»


«Danach der erste klare Gedanke: kein Amoklauf, bitte. Im Gegenteil: weiterschreiben, noch heute. (...) Aber ganz anders, frei, endlich frei, wirklich frei. Freigestellt, zum ersten Mal gefiel mir der alte Zynismus der Arbeitgeber.» Jürgen und Bernd, die einzig verbliebenen Freunde in der Redaktion, raten zu einem Blog. Aber was soll einer wie er im Netz, wo sich Hinz und Kunz auf der Jagd nach Klicks und Likes herumtreiben? «Heute bloggt doch jeder, der einen Computer starten kann. Allein im deutschen Sprachraum Zehntausende von entlassenen oder nie vorwärtsgekommenen oder edelpensionierten Schreiberlingen aller Richtungen, die bloggen und ihre Meinungen durchs Internet schaukeln.»


Dann doch lieber Tagebuch schreiben. In aller Freiheit, ohne Rücksicht auf Verluste. Für seine Nichte Lena, stellvertretend für die nächste Generation. «Die Zeiten sind zu aufregend, um nicht über sie zu schreiben.» Mit Wut und Verve recherchiert er zum Skandalthema der Cum-Ex-Geschäfte, zum Umlügen der internationalen Bankenkrise zur Euro-Krise. Liest wie im Rausch die Bücher des exzentrisch-cleveren Ex-Außenministers von Griechenland, Yanis Varoufakis. Fragt sich, wie die «Alternative für Dummheit» so weit kommen konnte. Wütet gegen Steuervermeidungsartisten und ministeriale Autolobbyisten. Und überlegt: «Ab wann darf man von ‹Bananenrepublik› sprechen?»

«Der ganze China-Komplex war mir über den Kopf gewachsen»

 

Zu einer wahren Obsession wird ihm die Beschäftigung mit China. Er legt ein China-Album an, sammelt akribisch «Beweise» dafür, wie das totalitäre Regime nach der Weltmacht greift. «Seidenstraße – ein Wort, das auf der Zunge zergeht, ein magisches, morgenländisches Versprechen. Ich halte jedes Mal inne, wenn es mir begegnet. Der Plan ist politisch genial: ein Netz moderner, chinesisch dominierter Handelswege durch alle Kontinente, Aufschwung, Freundschaft, Frieden und bessere Zukunft für alle versprechend.»


Auch wenn er allen erzählt, ihm gehe es blendend, und seine Frau Susanne froh ist, keinen «Jammerrentner» an ihrer Seite zu haben – glücklich ist er in seiner neuen Lebenssituation nicht. Ablenkung findet er in den alten Jazz-CDs, bei Thelonious Monk, Herbie Hancock, Keith Jarrett. Aber wirklich besser geht es ihm erst, als Fritz Roon sich bei ihm meldet, einst sein bester Kumpel am Gymnasium in Eschwege. Roon hat seinen Job als Kardiologe an der University of Maryland gekündigt und will nach Deutschland zurückkehren, um seine alten Tage als Landarzt auf Rügen zu verbringen.


Rügen, damit schließt sich für den Erzähler ein Kreis. Im September 1998 war dort seine geliebte jüngere Schwester von den Kreidefelsen nördlich von Sassnitz in den Tod gestürzt. Auch seine China-Paranoia macht sich an der Ostseeinsel fest. Manisch recherchiert er über Rügen als Immobilientrophäe der Chinesen. Tagebucheintrag vom 27.10.: «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich. (Mit diesem Satz im Kopf wachte ich auf.) Hier ein Hotel, da eine Villa, ein Waldstück, ein Anteil am Hafen Mukran, aller Anfang wird diskret sein. Oder ein Milliardär, vielleicht ein Millionär, der ein ausgefallenes Spielzeug sucht, wird auf eine der letzten Dampfeisenbahnen Europas aufmerksam, auf den beliebten ‹Rasenden Roland› von Rügen. Ein unwiderstehliches Objekt, weggekauft für einen Apfel und ein Ei ...» Und nun der Freund, für den er auf Rügen einen ärztlichen Landsitz finden soll.

«Konjunktur der Hysterien. Ich merke, wie unwichtig ich bin ..

 

Friedrich Christian Delius arbeitet in seinem Roman mit Namen, Fakten, Skandalen, die uns allen vertraut sind. Er versucht erst gar nicht, jene Personen zu fiktionalisieren, gegen die sich die Wut seines Protagonisten richtet. Die beiden Finanzminister, deren Namen mit Sch. beginnen (beide rigorose Verfechter der schwarzen Null) – wir wissen, wer gemeint ist; Frau M., auch «MÜK» genannt, die maßlos überschätzte Kanzlerin; der «allzeit grinsende Ex-Verkehrsminister, blind vor SUV und Renditesuff», und sein Kollege Horst S. von der Heimatfront; Ungarns Orbán als selbsternannter Verteidiger des christlichen Abendlandes ...


Altersmilde oder altersradikal? Das große Thema dieses Romans ist die Sinnkrise eines Mannes, der auf dem Höhepunkt seiner Kenntnisse und Erfahrungen aus dem geliebten Beruf herauskatapultiert wird – «was für eine Verschwendung!» Der sich verrennt, Verschwörungen wittert, aufbegehrt: gegen das Nutzloswerden, das Älterwerden, den Stoß in die Bedeutungslosigkeit. Am Ende wird es Rügen sein, das ihn gelassener, optimistischer nach vorn schauen lässt. Auf neue Ideen, neue Herausforderungen und die Erkenntnis: «Ich muss nicht originell sein. Nur widerborstig. Heiter widerborstig.»

Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich

Kassandra wird gekündigt. „Kassandra“ ist der Spitzname eines durchaus heiteren Wirtschaftsredakteurs, der den Fehler hat, lieber eigenen Recherchen zu folgen als den Pressesprechern der Minister und Konzerne. Der in der Kantine schon mal die Frage stellte, welche Politiker wohl in die Hölle kommen müssten, nachdem sie jahrzehntelang eine vernünftige Einwanderungspolitik verweigert haben.
Noch am Abend seiner Entlassung schreibt er weiter – nun im Tagebuch, frischer und frecher. Manchmal denkt er dabei an seine achtzehnjährige Nichte, die später vielleicht fragen wird: Wie war das damals im frühen 21. Jahrhundert, als Europa auseinanderbröselte? So konzentriert er sich auf die Vergewaltigung Griechenlands in der Bankenkrise. Und auf die Blindheit gegenüber China, das mit seiner Wirtschaftsmacht und antidemokratischen Ideologie immer näher rückt. Der gefeuerte Journalist flaniert durch Berlin und durch die deutsche Presse; er hört Jazz und das tektonische Beben der alten Weltordnung. Mit seinem Freund Roon, der nach Jahren in den USA nun Landarzt auf Rügen werden will, phantasiert er beim Wandern über die Kreidefelsen schon mal hundert Jahre voraus: wenn dankbare Chinesen der heutigen Kanzlerin ein Denkmal auf Rügen errichten.
Ein widerborstiger, pointierter, hochpolitischer und hellsichtiger Roman.

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